Arbeitgeber wollen die beginnende vierte industrielle Revolution für einen Kahlschlag an sozialen Errungenschaften und Gewerkschaften nutzen.
Piiiiep-Piiiiep: Wenn die Kundschaft die Waren selber scannt, können Detailhändler beim Verkaufspersonal sparen. Cumulus-Punkte gibt’s aber trotzdem. (Foto: Keystone)
Technische Umbrüche, das erzählen erfahrene Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, sind harte Zeiten. Nicht nur Produktion und Arbeit werden neu organisiert. Jetzt wird auch das Kräfteverhältnis zwischen Arbeitenden und Kapital für die nächsten Jahrzehnte ausgemarcht.
Im Herbst legen die Gewerkschaften Syndicom und Unia ihre Strategien zur Digitalisierung vor. Und dies sind die fünf dringendsten Herausforderungen:
1 ARBEITSZEIT. Arbeitgeber und ihre Politiker wollen die Arbeitszeitkontrolle schleifen oder sogar jede Arbeitszeitbegrenzung fallenlassen (work berichtete). Sie begründen die Entgrenzung der Arbeitszeit mit «technischen Notwendigkeiten», die eine hohe Flexibilität notwendig machten. Im Parlament könnten sie damit durchkommen. Unsinn, sagt Luca Cirigliano vom Gewerkschaftsbund: «Sie müssen gestoppt werden.» Unia-Industriechef und SP-Nationalrat Corrado Pardini will das Recht der Angestellten verankern, ausserhalb ihrer Arbeitszeit das Internet abzustellen: «Freizeit ist eine elementare Notwendigkeit und ein Grundrecht.» In Frankreich zwingt das Arbeitsgesetz die Firmen, um 22 Uhr ihre Leitungen stillzulegen.
2 ARBEITSVERTRAG. Im «Digitalen Manifest» fordern Unternehmer, die Unterscheidung zwischen Festangestellten und Auftragnehmenden fallenzulassen. Es wäre ein Freipass für die Auslagerung der Arbeit an rechtlose Heimarbeitende. Ein Rückfall ins 19. Jahrhundert. Und eine offene Tür für Scheinselbständigkeit und die Plattform-Ökonomie à la Dumpingfahrdienst Uber. Plattform-Ökonomie ist Augenwischerei: Tatsächlich ist Uber ein weltweit operierender Monsterkonzern. Unia wie Syndicom denken darum über ein innovatives Arbeitsstatut in der Verfassung nach. Bei Syndicom läuft es unter dem Arbeitstitel «Recht auf Arbeit». Die Idee dahinter: ein universeller Arbeitsvertrag für alle, die gegen Lohn Arbeit entrichten.
3 ÜBERWACHUNG. An digitalisierten Arbeitsplätzen werden immer mehr versteckte Instrumente eingesetzt, welche die Arbeitenden kontrollieren und steuern sollen (Stimmkontrolle, Arbeitsfortschrittskontrolle, Emotionskontrolle usw.). Das erhöht den Stress und setzt, kombiniert mit anderen persönlichen Daten (Abwesenheiten, Krankheiten, Berichte der Vorgesetzten), Arbeitende diskriminierenden Massnahmen aus.
Sinnvolle digitale Anwendungen gilt es zu unterstützen.
Gewerkschaftliche Gegenwehr: obligatorische Meldung jeder Kontroll- und Steuerungstechnik, Einführung nur per sozialpartnerschaftliche Übereinkunft. Und, elementar, findet Unia-Mann Corrado Pardini: «Das Recht auf die eigenen Daten und ausgebaute Mitbestimmungsrechte in der Jobgestaltung.»
4 QUALIFIKATION. Weil die Anforderungen an die Arbeitenden im digitalisierten Kapitalismus ständig wechseln und wachsen, muss ein Recht auf Weiterbildung in jeden Gesamtarbeitsvertrag (oder sogar ins Gesetz). In den Entwürfen von Syndicom heisst dieses Recht «Bildungskonto».
5 DIE JOBS. Die Gewerkschaften müssen eigene industriepolitische Strategien entwerfen und diese durchsetzen. Sie sollen Massenentlassungen verhindern und sinnvolle digitale Anwendungen in innovativen Geschäftsfeldern unterstützen (Stichwort dazu: Reindustrialisierung). Etwa mit dem Unia-Produktionsfonds, der solche Projekte mit billigem Kredit fi nanziert. Aber in der Diskussion ist weit mehr: Übernehmen Maschinen /Roboter die Rolle lebendiger Arbeit in der Wertschöpfung, soll der Wertschöpfungsprozess besteuert werden, um soziale Absicherung zu garantieren.
Bau: Das Gröbste kommt erst
Chris Kelley, Unia Bau (Foto: zVg)
Auf dem Bau steht die Digitalisierung grösstenteils noch bevor. Chris Kelley vom Unia- Sektor Bau nennt sie ein «heisses Thema». Ein Dossier der Unia ist in Arbeit. Der digitale Umbruch betrifft derzeit in erster Linie den Planungsprozess. Neue Softwareprogramme ermöglichen zum Beispiel bessere Pläne und auch das frühzeitige Erkennen von Fehlern. Dabei werden dreidimensionale Modelle von Gebäuden erstellt. Das Gebäude wird also zweimal gebaut, zuerst digital, dann echt. Im Fachjargon: «Gebäudedaten- Simulierung».
Früher oder später würden aber auch die Leute auf den Baustellen von der Digitalisierung betroffen sein, sagt Kelley – Maschinisten, Kranführer, Poliere. Bereits heute gibt es Maschinen, die selbsttätig Mauern bauen können. Und das Haus aus dem 3-D-Drucker ist ebenfalls schon gebaut – auch wenn es sich noch um eine Zukunftstechnologie handelt. (rh)
Syndicom: Bots und Chancen
Giorgio Pardini, Syndicom (Foto: zVg)
Syndicom ist als Netzwerk- und Logistikgewerkschaft (Swisscom, Post usw.) von der Digitalisierung «gleich doppelt betroffen», sagt Giorgio Pardini, der Leiter des Sektors Informations- und Kommunikationstechnologien: Einerseits sind die Syndicom- Mitglieder durch ihre Arbeit Digitalisierungstreiber. Andererseits sind sie Digitalisierungsbetroffene, denn bei der Telekommunikation, der Information und der Post sind starke Automatisierungskräfte am Werk.
Die Swisscom setzt heute in der Beratung bereits Chatbots ein, also vollautomatisierte Sprachkommunikation. Studien sagen dem Bereich hohe Jobverluste voraus. Und die beruflichen Anforderungen verändern sich fast täglich. Doch Giorgio Pardini arbeitet mit den Syndicom-Mitgliedern lieber an den «extremen Chancen, die wir aber nur im sozialen Dialog mit den Konzernen realisieren können ». (olf)
Tertiär: Auf breiter Front
Mauro Moretto, Unia Tertiär (Foto: Unia)
Mauro Moretto vom Unia-Dienstleistungssektor sagt: «Wir sind auf breiter Front von der Digitalisierung betroffen. » Das zeigt zum Beispiel der aktuelle Kampf gegen den Fahrdienst Uber, der via Internetplattform die Mitarbeitenden zu Scheinselbständigen degradiert ohne Sozialschutz. Gefahren sieht Moretto auch durch Vermietungsplattformen wie Airbnb. Diese hätten, so der Unia-Mann das Potential, den Gesamtarbeitsvertrag im Gastrobereich auszuhebeln.
Neue digitale Techniken führen aber auch zum Jobabbau im Handel, zur Entgrenzung der Arbeit sowie zu einer verschärften Überwachung der Arbeitenden. Vor einem Jahr beschloss die Delegiertenversammlung Tertiär ein Manifest. Es fordert unter anderem, dass die Technik im Dienst der Angestellten stehen müsse und die geltenden Arbeitsbedingungen nicht gefährdet werden dürften. (rh)
Banken: Zweite Welle rollt an
Denise Chervet, Bankpersonalverband (Foto:zVg)
Bei Banken und Versicherungen sind Tausende von Jobs gefährdet. Im Unterschied zu anderen Branchen sind hier bereits viele Stellen durch den Einsatz von spezialisierter Informationstechnik und Software weggefallen, vor allem im Bereich Zahlungsverkehr und in der Verwaltung. Denise Chervet, Geschäftsführerin des Bankpersonalverbands, sagt: «Jetzt läuft die zweite Welle.» Bedroht seien nun auch Personen mit höherer Qualifikation, wie etwa Kundenberater oder Händlerinnnen.
Chervet verweist insbesondere auf technologische Neuerungen wie computerisierte Plattformen, Möglichkeiten mobiler Zahlung oder die «Blockchain-Technologie», welche die dezentrale Verwaltung von Datenbanken ermöglicht. Im Juni wird der Bankpersonalverband ein Thesenpapier zur Digitalisierung mit gewerkschaftlichen Gegenmassnahmen vorstellen. (rh)
Industrie: Ab- oder Aufbruch
Corrado Pardini, Unia-Industriechef (Foto: Unia)
Die Industrie war der erste Sektor, in dem die digitalisierte Automatisierung schon vor vielen Jahren Einzug hielt, sagt Unia-Industriechef Corrado Pardini: «Doch heute sind wir mit Big Data, Sensorik, künstlicher Intelligenz und vor allem mit ihrer Vernetzung zu komplexen Produktionssystemen in einer völlig neuen Situation.»
Sie kann, sagt Pardini, in eine kräftige Reindustrialisierung der Schweiz münden, «weil wir zum Beispiel viele Dinge, deren Produktion ausgelagert wurde, wieder hier herstellen». Und weil neue Produktionen entstehen. Zwei Voraussetzungen aber nennt er: eine starke Industrie-, Investitions- und Ausbildungspolitik. Und mehr Kaufkraft durch die gerechtere Verteilung der Gewinne: «Sonst mündet die Kombination von Automatisierung, schlechteren Arbeitsbedingungen und Überwachung in einen Albtraum.» (olf)
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