Unbürokratischer Fonds für alle Asbestopfer

Aktuell bekommen nicht alle Asbestkranken gleich viel Geld. Ein neuer Fonds ändert das.

ZERSTÖRT: Ivan McMurray zeigt ein Röntgenbild, auf dem man sieht, was Asbeststaub in seiner Lunge angerichtet hat. (Foto: GETTY images)

Asbest ist schon seit dem Jahr 1990 verboten. Doch nach wie vor erkranken jedes Jahr in der Schweiz etwa 120 Personen schwer an den Folgen eines Kontakts mit dem Baustoff. Das ist das Heimtückische an diesem hochgefährlichen Material: Seine Auswirkungen auf die Gesundheit treten erst zwanzig bis vierzig Jahre nach dem Kontakt ein. Eingeatmete Asbestfasern sind verantwortlich für Krankheiten wie Asbestose, Brustfellkrebs (Mesotheliom), Lungen- und Kehlkopfkrebs.

GEFÄHRLICHE WUNDERFASER

Die meisten der Erkrankten arbeiteten ab den 1960er Jahren auf Baustellen, im Gewerbe oder in der Industrie. Damals wurde Asbest grosszügig eingesetzt. Die «Wunderfaser» war billig, leicht und stark, beständig gegen Säure und Feuer. Sie isolierte gegen Kälte, Wärme, Nässe und Lärm. Doch dass schon der kleinste Kontakt mit ihr gefährlich war, wurde erst Jahre später zugegeben. Heute sind die Folgen von Asbest bei der Suva als Berufskrankheit anerkannt und werden entsprechend entschädigt.

Asbest galt als billige «Wunderfaser» – und sie tötet noch heute.

Doch fast ein Viertel jener, die jährlich schwer krank werden, haben gar nie mit Asbest gearbeitet. Es handelt sich beispielsweise um Ehefrauen, die sich über die verstaubte Arbeitskleidung ihrer Männer angesteckt haben. Oder auch um Kinder, die in der Nähe einer asbestverarbeitenden Fabrik gespielt, um Menschen, die in asbestverseuchten Häusern gelebt haben.

Das grosse Problem: Während jene, die wegen der Arbeit mit Asbest krank werden, Taggelder aus der Unfallversicherung Suva bekommen, haben Angehörige oder zufällig Erkrankte nur Anspruch auf Leistungen aus der obligatorischen Krankenversicherung und der Invalidenversicherung. Und diese sind um einiges tiefer als die Entschädigungen der Suva.

FINANZIELLE HILFE

Ab Mitte Jahr soll diese Ungleichbehandlung ein Ende haben. Ab dann gibt es nämlich den Entschädigungsfonds für alle Asbestopfer. Der «Runde Tisch Asbest», an dem neben den Gewerkschaften und der Wirtschaft auch die Vereine der Asbestopfer und die Behörden diskutierten, hat Ende 2016 beschlossen, eine Stiftung und einen dazugehörigen Entschädigungsfonds für Asbestopfer (EFA) zu gründen.

Viele Fälle in Unia-Branchen

Bis heute hat Asbest über 1800 Menschen das Leben gekostet, ­alleine in der Schweiz. Ein grosser Teil dieser Todesfälle sind Arbeiterinnen und Arbeiter, die in den Unia-Branchen tätig waren: im Schreiner- und Elektrogewerbe zum Beispiel, im Bauhaupt­gewerbe und im Apparate- und ­Maschinenbau. Die Unia beschäftigt sich auch deshalb seit vielen Jahren mit diesem Problem und hat am runden Tisch, der den neuen Entschädigungsfonds beschlossen hat, mitdiskutiert. Mehr zum Thema auf www.unia.ch/asbest.

Unter der Leitung von alt Bundesrat Moritz Leuenberger hat sich der runde Tisch darauf geeinigt, wer Anspruch auf Unterstützung habe und wie diese im Einzelfall aussehen solle.

Grundsätzlich wird neu die Regel gelten: Wer an einem bösartigen Tumor im Bauch- und Brustfellbereich (Mesotheliom) leidet, bekommt finanzielle Unterstützung. Ganz unabhängig davon, ob es sich um eine Berufskrankheit handelt oder nicht.

Die einzige zusätzliche Bedingung ist, dass die Ansteckung in der Schweiz erfolgt sein muss.

Die weiteren Eckwerte:

  • Sobald ein solches Mesotheliom ausbricht, haben die Betroffenen grundsätzlich Anspruch auf eine Entschädigung.
  • Wer beruflich in Kontakt mit Asbest gekommen ist und ein Mesotheliom hat, bekommt weiterhin eine Entschädigung aus der Unfallversicherung. Zusätzlich soll er oder sie eine einmalige Abfindung erhalten. Das Geld dafür kommt rückwirkend auf zehn Jahre aus dem neuen Asbestfonds. Ab dem 1. Januar 2017 übernimmt die Suva in Form einer höheren «Integritätsentschädigung», einer Art Schadenersatz für Gesundheitsschäden.
  • Wer ein Mesotheliom hat, das nicht als Berufskrankheit anerkannt ist, soll eine pauschale Entschädigung aus dem Fonds erhalten. Diese berechnet sich gleich wie der Lohnersatz, den die Suva bezahlt (80 Prozent des Einkommens vor Ausbruch der Krankheit).
  • Wer nicht über den Beruf ­wegen Asbest krank geworden ist, bekommt aus dem Fonds eine pauschale Abfindung (Schmerzensgeld). Diese orientiert sich an der Suva-Integritätsentschädigung.
  • Sterben die Erkrankten, bevor sie das Geld beziehen konnten, geht die Entschädigung an die ­Familienangehörigen: also an Kinder, Ehepartnerinnen, eingetragene Partner, Partnerinnen und Partner, mit denen die Verstorbenen mindestens 5 Jahre zusammenlebten.

Die Entschädigungen aus dem Fonds erhält nur, wer ein Mesotheliom hat. Der Grund: Andere Erkrankungen, die auf Asbest zurückgehen, sind ohne einen beruflichen Kontakt mit dem Material kaum möglich. Es gibt allerdings eine Härtefallregel, falls wider Erwarten solche Fälle auftauchen sollten.

FONDS ODER PROZESS?

Wer Gelder aus dem Fonds beziehen will, muss schriftlich darauf verzichten, auf juristischem Weg zusätzliche Forderungen zu stellen. Vasco Pedrina, der ehemalige Co-Präsident der Unia, war die treibende gewerkschaftliche Kraft hinter dieser Lösung. Er erklärt: «Der Fonds bietet eine rasche und grosszügige Entschädigung an. Die Erkrankten haben weiterhin die Wahl, ob sie direkt aus dem Fonds entschädigt werden wollen oder ob sie vor Gericht gehen.» Jedoch sind Prozesse teuer und der Ausgang ungewiss.

Erkrankte haben zwei Jahre Zeit, ihre Ansprüche zu melden.

Pedrina ergänzt: «Wer einen Prozess anstrebt, muss mit langjährigen Verfahren rechnen.» Diese Zeit haben viele Mesotheliomkranke nicht. Sobald die Diagnose gestellt ist, liegt die Lebenserwartung meistens nicht über zwei Jahren.

Wichtig ist: Sobald die Eckwerte in Kraft treten, haben bereits Erkrankte zwei Jahre Zeit, um ihre Ansprüche anzumelden. Danach erlischt ihre Berechtigung. Noch ist nicht klar, an wen Betroffene ihre Gesuche richten können. work bleibt dran.


PilotprojektNeuer Care-Service

Der runde Tisch hat sich nicht nur auf die Einführung des ­neuen Entschädigungsfonds geeinigt. Er will auch einen Care-­Service einrichten. Dieses ­Beratungsangebot soll für alle Betroffenen und ihre Angehörigen einfach erreichbar und kostenlos sein. Es richtet sich auch an jene Menschen, bei denen die Krankheit nicht ausgebrochen ist, die dies aber befürchten.

Die Stiftung EFA (siehe oben) entwickelt zusammen mit der Non-Profit-Organisation
Lunge Zürich ein entsprechendes Pilotprojekt: Vor allem wer an Brustfellkrebs erkrankt und deswegen eine sehr kurze weitere Lebenserwartung hat, braucht rasch professionelle Beratung und Unterstützung.

VORBILD. Der Care-Service steht Betroffenen für Auskünfte zur Verfügung, beispielsweise, welche Schritte sie unternehmen sollen, um Entschädigungen aus dem Fonds zu erhalten. Wenn nötig, wird er auch Rechtsberatungen vermitteln. In der Deutschschweiz soll die Beratungsstelle gleichzeitig mit dem Fonds starten, das heisst Mitte Jahr; in der Romandie und dem Tessin laufen die Gespräche.

Als Vorbild dient ein Beispiel aus Österreich, wo es einen ähnlichen Service seit 2004 gibt. In den ersten zehn Jahren hat dieser schon mehr als 100 000 psychologische und rechtliche Beratungen durch­geführt.

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.