Harald Kust: «Das Velo ist meine Berufung»

Die Kurven auf dem Velo nimmt Haral Kust (54) mindestens so elegant wie jene in seinem Lebenslauf. Die Karriere von Harld Kust  führte ihn von der Velowerkstatt an die Universität und wieder zurück.

Harald Kust (54) in seiner Velowerkstatt. (Foto: Yoshiko Kusano)

Ein Gedicht erreichte die work-Redaktion vor einigen Wochen. Ein «Plädoyer gegen die Kostenoptimierung in Verkaufsläden», hiess es dazu. Titel: «Die Wunderbaren». «Leise sind sie da / sie nehmen sich zurück / und sie geben / Menschlichkeit / Würde / Respekt / selbstverständlich/ ohne zu fragen / ohne zu fordern / sie sitzen an Kassen / sie bedienen / ich frage mich / woher nehmen sie die Kraft für / Menschlichkeit / Würde / Respekt / in einer Welt / von Schreihälsen und Egoisten». Für eine Veröffentlichung müsse man bei Autor Harald Kust nachfragen.

STRAFFER ZEITPLAN. Er schreibe viel und gerne, sagt dieser am Telefon, er habe früher mal Literaturwissenschaft studiert. Aber jetzt arbeite er in einer Velowerkstatt. Nicht gerade ein alltäglicher Lebenslauf.

work trifft den 54jährigen an seinem Arbeitsort, Velo Virus in Münchenbuchsee BE. Ein Familiengeschäft: Beat Blaser ist der Chef, seine Frau Brigitte kümmert sich ums Büro, Harald Kust schraubt mit den Kollegen Remo Steiner und Mättu Haller in der Werkstatt. Jeder hat seinen eigenen Arbeitsplatz. Das sei wichtig, erklärt Kust: «Da weisst du genau, wo du welches Werkzeug findest.»

Im Moment ist Hochsaison, doch eigentlich gebe es das ganze Jahr über viel zu tun, sagt er. In der Region benutzen viele Menschen das Velo als Fortbewegungsmittel, um von A nach B zu kommen. Dort, wo er wohnt, in Freiburg, sei das anders: «Da ist das Velo in erster Linie ein Sportgerät.» Eine Frage der Topographie.

Entsprechend wichtig ist für die Kundinnen und Kunden von Harald Kust ein funktionierendes Velo. Haben sie einen Termin, bringen sie ihr Velo zwischen acht und halb neun Uhr morgens in die Werkstatt, ab halb sechs abends können sie es wieder im Laden abholen. Pro Tag macht Kust etwa drei Services und kleinere Reparaturen, das sei ein «ziemlich straffer Zeitplan ». Pro Service rechnet man zwei bis maximal drei Stunden. «Aber es kommt relativ oft vor, dass es Dinge zu erledigen gibt, die man nicht vorhergesehen hat.» Eine abgebrochene Schraube, ein verschlissenes Teil: «Da wird’s hintenraus manchmal schon sehr eng.»

Mir sind mitem Velo da: Damit das Zweirad lange Zeit rund läuft, braucht es regelmässige Pflege. Zum Beispiel mit einem Service bei Harald Kust und seinen Kollegen. (Foto: Yoshiko Kusano)

Späte Promotion. Dieser Stress ist es, der ihm an seiner Arbeit am wenigsten gefällt. Aber abgesehen davon, so Kust, «ist das Velo eher Berufung als Beruf». Und zwar schon seit Jahrzehnten. Obwohl gelernter Bäcker / Konditor, arbeitete er schon nach der Ausbildung als Aushilfe in einer «Radel- Werkstatt» in München, später als Werkstattleiter in einem Triathlon-Laden. Doch irgendwann habe er gemerkt, «dass mir das Büezen alleine nicht reicht». Deshalb gab Kust mit Mitte dreissig alles auf, kündigte den Job und machte die Matur auf dem zweiten Bildungsweg. Am Wochenende fuhr er nachts Taxi, um sich das leisten zu können: «Absoluter Irrsinn!» sagt er in seinem bayrischen Dialekt heute dazu.

Weil er während dieser Zeit sein Faible fürs Schreiben entdeckte, studierte er an der Universität Literaturwissenschaft und Kommunikationswissenschaft. Und entschied sich später sogar dafür, einen Doktortitel in Kommunikationswissenschaft zu machen an der Universität in Freiburg. Als er 2011 promovierte, war er bereits 49 Jahre alt.

GROSSE UNABHÄNGIGKEIT. Diese Tatsache wurde Kust zum Verhängnis. «Ich kam an einen Punkt, wo’s nicht mehr weiterging», sagt er. Anderthalb Jahre suchte er nach einer Stelle, Absage folgte auf Absage. «Es hiess, ich müsste mit meinen Qualifikationen einen Kaderlohn verdienen. Ich wollte das nicht, aber trotzdem hatte ich nirgends eine Chance.» Auch deshalb zog es Kust wieder in die Velowerkstatt. Und wegen der grossen Leidenschaft fürs Velofahren. «Mein Körper, ein bisschen Blech und ein bisschen Gummi», mehr brauche es nicht. Das sei «die ganz grosse Unabhängigkeit». 200, 250 Kilometer Distanz sind für Kust kein Problem. Er fährt fast jeden Tag auch die je 42 Kilometer Arbeitsweg hin und zurück mit dem Velo, Winter wie Sommer.

Und so ist das Einzige, was ihn an seiner kurvigen Karriere wirklich stört, die Tatsache, dass er nie eine Lehre als Velomechaniker gemacht hat. Nicht aus finanziellen Gründen, aber der Status sei halt schon ein anderer, meint Kust.

Das Handwerk beherrscht er trotz fehlendem Papier. Das habe ihm auch an der Universität weitergeholfen: «Vielen, die studieren, fehlt der Bezug zum sorgfältigen Arbeiten und zur Arbeitsdisziplin.» Deshalb empfiehlt er allen, die die Matur machen, zusätzlich ein Handwerk zu lernen. Ausserdem kann das Arbeiten mit den Händen etwas sehr Befriedigendes sein: «Wenn ich am Abend dastehe und sehe, was ich alles geschafft und unseren Kunden geholfen habe, dann macht mich das sehr zufrieden.»


Harald Kust: Dichtender Gümmeler

Harald Kust (* 1962) wächst auf in München. Auf Anraten seiner Mutter lernt er Bäcker und Konditor, findet aber schon sehr bald den Weg in die Velowerkstatt. Auf dem zweiten Bildungsweg holt er die Matur nach, studiert Literaturwissenschaft und Kommunikationswissenschaft und macht den Doktortitel in diesem Fach. Ein zähes Stück Arbeit, sagt Kust heute: «Dass ich die Doktorarbeit geschafft habe, darauf bin ich wirklich stolz.»

Pro Velo. Seit zwei Jahren arbeitet er als Velomechaniker in Münchenbuchsee bei Bern, aktuell mit einem Pensum von 80, ab November noch 60 Prozent, damit er Zeit zum Schreiben hat. Auf 100 Prozent gerechnet verdient er knapp 5000 Franken monatlich. Damit ist er sehr zufrieden.

Auch privat spielt das Velo in Kusts Leben eine grosse Rolle. Rund 15 000 Kilometer war er im letzten Jahr auf zwei Rädern unterwegs. Und auch seine Freundin hat er übers Velofahren kennengelernt: bei Pro Velo Freiburg, wo er als Sachverständiger Interessierte bei den Velobörsen berät.

3 Kommentare

  1. Eva Bischoping 6. Oktober 2018 um 22:48 Uhr

    Hallo Harald,
    du schaust immer noch so nett wie vor 15 Jahren!! Erinnerst du dich an Andi und Eva aus München/ Toskana? Hast du Lust dich mal zu melden? Das würde uns sehr freuen!
    Alles Liebe Eva

    • Harald 10. März 2019 um 7:25 Uhr

      Hallo Eva, das ist ja eine nette Überraschung! Klar erinnere ich mich an euch, wir hatten schöne Zeiten zusammen 🙂 Wie habt ihr mich denn auf dieser Website von Work gefunden? Sorry, dass ich mich erst jetzt melde, wusste nicht, dass der Artikel ins Internet kommt, war zuerst nur als Printversion gedacht. Ja, ich würde euch sehr gerne mal wieder sehen. Wohnt ihr noch in dem netten Häusl in Berg? Bin öfters mal in Krailling bei meinem Freund Wolfi, dann könnte ich mal bei euch vorbeiradeln. Leider habe ich keine Telefonnummern oder Mailadressen von euch. Viele Grüsse auch an Andi und hoffentlich bis bald, Harald

  2. Marita Bongarts 1. Juli 2018 um 19:41 Uhr

    Lieber Harald, Dein Werdegang ist beachtlich.
    Viele Grüße von einer „alten“ Freundin.
    Marita

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