Wochenlang harrt die Biologin und gelernte Optikerin Franziska Lörcher in einem Baucontainer oberhalb von Melchsee-Frutt aus. Ihr Einsatz gilt dem Bartgeier im europäischen Alpenraum.
Höhenluft: Im Baucontainer ob Melchsee-Frutt arbeitet und wohnt Franziska Lörcher auf kleinstem Raum. (Foto: Hansruedi Weyrich)
In schweren Bergschuhen und dunklen, unauffälligen Outdoorkleidern klettert sie leichtfüssig den Steilhang herunter, um ihren Hals schlenkert ein Feldstecher. Franziska Lörcher bewegt sich im rauhen Terrain oberhalb von Melchsee-Frutt so flink, als wäre es ihr Wohnzimmer. Ihr Ziel: der Infostand der Stiftung Pro Bartgeier auf dem Hengliboden.
Einst glaubten die Bauern, der Bartgeier sei ein Lämmerdieb, ja er fresse gar Babies. Deshalb ist er im 19. Jahrhundert in den Schweizer Alpen ausgerottet worden. Der letzte seiner Art wurde 1897 in Visp VS abgeschossen. Erst seit 1991 werden in der Schweiz wieder Bartgeier angesiedelt, zum Beispiel hier in den Obwaldner Bergen, wo Jungvogel Johannes im Juni in einer Felsnische ausgewildert worden ist.
MIT SCHARFEN AUGEN. Bartgeier, weiss man inzwischen, ernähren sich von Aas – hauptsächlich von Knochen. Alle zwei Tage klettert die Biologin in aller Herrgottsfrühe, wenn der Vogel noch schläft, zu den Felsen hinauf und legt ein paar angefaulte Rehknochen aus. Johannes darf nicht merken, dass Menschen ihm das Futter servieren. Schliesslich soll er bald über den Alpenbogen fliegen und selbständig Aas finden.
Franziska Lörcher stellt das grosse Fernrohr sorgfältig ein. Johannes in Sicht! Gut getarnt kauert der junge Vogel auf einem Felsvorsprung. Lörcher zeigt mir ein paar Tricks, wie man durch einen Feldstecher hindurch scharfe Handyfotos schiesst. Sie weiss nicht nur über Bartgeier bestens Bescheid, sondern auch über Feldstecher und Kameras. Bevor sie Biologie studierte, hat sie nämlich eine Lehre als Optikerin gemacht. Sie sagt: «Dass ich mit optischen Geräten umgehen kann, kommt mir hier draussen sehr zugute!» Aber noch eine andere Parallele zieht sie zu ihrem ersten Beruf: «Die Bartgeier sehen extrem scharf. Sie können einen herumliegenden Knochen aus grosser Distanz erkennen.»
Zurück in die Berge: Dank Auswilderungen ist der Bartgeier auch im Schweizer Alpenraum wieder anzutreffen. (Foto: Hansruedi Weyrich)
FLUGSTUNDE. Plötzlich piepst das Funkgerät, das die Biologin stets auf sich trägt, wenn sie den Container verlässt. Ihr Assistent Mirco, der oben bei der Baracke geblieben ist und den Vogel keine Sekunde aus den Augen gelassen hat, meldet, es tue sich etwas. Wir stürzen zum Fernrohr, und tatsächlich, Johannes hat seine Schwingen ausgebreitet – 2,6 Meter beträgt die Flügelspannweite des Jungvogels. Er flattert ein paar Mal unschlüssig, erhebt sich einige Meter in die Luft, macht Hüpfer und landet wieder. Er ordnet sein Gefieder, ruht sich eine Weile aus, versucht es nochmals. Nun fliegt er etwas höher, landet bei einem Felsen einige Hundert Meter weiter weg. So gehe das jeden Tag, erzählt die Biologin, und nein, langweilig werde ihr hier nie: «Wenn ein Bartgeier anfängt zu fliegen, will ich hier sowieso nicht weg!»
(Foto: Hansruedi Weyrich)
Ein bisschen Sorge ist immer dabei. Manchmal muss ein geschwächter Vogel eingefangen und aufgepäppelt werden, bevor er wieder ausgesetzt wird. Dass aber ein junger Bartgeier gleich nach den ersten Flugversuchen stirbt, damit hätten sie niemals gerechnet, sagt Lörcher. Kürzlich ist dieser Worst Case eingetreten. Das zweite Tier, das diesen Sommer ausgewildert worden war, geriet in der Nacht nach dem ersten Flug wahrscheinlich in eine heftige Windböe und stürzte so unglücklich, dass es starb. Umso mehr freut sich die Biologin, dass Johannes nun gute Fortschritte macht.
FEDERFÜHRERIN. Zwei bis drei Wochen am Stück verbringt Franziska Lörcher im Sommer jeweils mit den Beobachtungen in der Natur. Dann kehrt sie in ihr Büro in Zürich zurück, wo sie zu fünfzig Prozent für die Schweizerische Stiftung für Bartgeier und zu fünfzig Prozent für die Internationale Stiftung für Geier (Vulture Conservation Society) arbeitet. Dort ist sie verantwortlich für das genetische Monitoring der Bartgeierpopulation in den gesamten europäischen Alpen. Wenn jemand eine Feder findet, schneidet sie ein Stück heraus, in dem DNA enthalten ist, und schickt es ins Labor. Dann vergleicht sie das Resultat mit ihrer Referenzdatenbank. Wenn es ein wild geschlüpftes Tier ist, kann sie anhand der DNA die Elternschaft rekonstruieren und in die Stammbäume eintragen, die sie minutiös führt.
Ausserdem ist Lörcher viel auf Reisen. Dieses Jahr war sie schon in Korsika und in der Provence, um Jungvögeln solarbetriebene Sender zu montieren und ein paar ihrer Federn mit einem individuellen Muster zu bleichen, damit sie im Flug von weitem erkannt werden. Sie sagt: «Wir Bartgeierspezialisten sind international sehr gut vernetzt und können einander jederzeit anrufen, wenn es ein Problem mit einem Tier gibt. Die Vögel kennen keine Grenzen, und wir passen uns ihrem Verhalten an.»
Der Infostand der Stiftung Pro Bartgeier auf dem Hengliboden oberhalb von Melchsee-Frutt ist öffentlich zugänglich. Dort lassen sich die jungen Bartgeier bei der Auswilderung und in den Monaten danach beobachten. www.bartgeier.ch
Franziska Lörcher: Die Vogel-Kundige
Geboren 1980 in der Nähe von Aarau, machte Franziska Lörcher zuerst eine Augenoptikerlehre. «Das war sehr gut, dort habe ich gelernt, was schaffen heisst! An der Uni sagt dir selten jemand, das und das muss bis morgen erledigt sein.» Vor allem aber konnte sie sich durch den Beruf ihr Studium finanzieren. Sie machte die Abend-matura, wobei sie ihre Maturaarbeit schon über Bartgeier schrieb. An der Universität Bern folgte das Bachelorstudium in Biologie. An der Universität Zürich schrieb sie ihre Masterarbeit über die genetische Diversität der Bartgeier. Parallel dazu begann sie für die Stiftung Pro Bartgeier zu arbeiten.
TRITTSICHER. Ihr Hobby: Klettern und Bouldern. Franziska Lörcher lacht: «Bei meiner Arbeit ist es natürlich auch von Vorteil, trittsicher zu sein und etwas Kraft und Geschicklichkeit zu haben!» Wie viel sie genau verdient, kann sie nicht sagen. Ihr Lohn, lacht sie, sei «ein Naturschutz-Arbeitslohn, für sechs Jahre Studium nicht viel, aber es reicht gut zum Leben, und ich möchte nichts anderes machen!»