Landesstreik 1918: Die Frauen rebellierten schon ein Jahr früher
Klassenkampf mit Kartoffeln

Vor dem Generalstreik standen die «Kartoffel- Krawalle»: Frauen wehrten sich gegen Spekulation und Preistreiberei. Ein Blick auf die Pionierinnen des Landesstreiks.

Vereint im Kampf gegen die Krise: Marktfrauen verlangen behördliche Kontrollen und garan tierte Höchstpreise für Nahrungsmittel. (Foto: Staatsarchiv des Kantons Bern)

War das ein Flashmob? Jedenfalls lief es so: Am 1. Juli 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, versammelten sich um 8 Uhr morgens einige proletarische Frauen vor dem Berner Parlamentsgebäude. Ein Teil setzte sich ab und strömte zum Markt. Dort knöpften sie sich Marktfrauen vor, die Kartoffeln, Eier und Gemüse zu überhöhten Preisen verkauften. Teils handgreiflich zwangen sie sie, die Preise zu senken. Bei Widerstand drängten sie die Marktfrauen weg und verkauften die Härdöpfel selbst. Reiche Kundinnen schimpften und suchten das Weite. So verlief eine der vielen Marktdemonstrationen des Kriegsjahrs 1916. Solche gab es auch in Zürich, Biel, Thun und Grenchen.

ARBEITERINNENVEREINE

In Biel artete die Marktdemo zu einem Massenaufl auf aus. «Tausende», hiess es nachher in der Zeitung, hätten sich zusammengetan und gegen Wucher und Preistreiberei protestiert. Meistens sei die Polizei eingeschritten, schreibt die Historikerin Regula Pfeifer, die das Phänomen untersucht hat. Es gab Beschimpfungen, Rempeleien, Blessuren und Verhaftungen. Teils wurden auch Körbe umgekippt, und die Kartoffeln kullerten auf den Boden. Glücklich sei gewesen, wer eine «Grundbirne » habe erhaschen können, notierte ein Lokalblatt. Zunächst war unklar, wer hinter den Aktionen steckte. Regula Pfeifer fand heraus, dass es die sozialdemokratischen Arbeiterinnenvereine waren: «Die Frauen jener Vereine bildeten den Kern der Demonstrantinnen.»

Rosa Luxemburg der Schweiz: Frauenrechtlerin und Streikorganisatorin Rosa Bloch-Bollag. (Foto: Schweizerisches Sozialarchiv)

POLIZEI SCHÜTZT SPEKULANTEN

Diese trafen mit ihren Aktionen den Nerv der Zeit. Denn nicht nur linke Frauen empörten sich über die Ausnützung der Lebensmittelknappheit. Auch bürgerliche Frauen waren entrüstet. Und war einmal ein Auflauf im Gang, schlossen sich ihm viele spontan an. Das machte Eindruck und hatte Erfolg. Die Presse berichtete, die Frauen hätten am Protesttag die Kartoffelpreise um volle 30 Rappen drücken können. Am zweiten Demo-Tag in Bern, dem 4. Juli, marschierten die Frauen vors Bundeshaus, angeführt von Rosa Grimm, der Gattin des Arbeiterführers Robert Grimm. Dort stand jedoch die Polizei und blockte jede weitere «Äkschen» ab. Am Mittag bildete sich erneut eine «lärmende Volksmenge», wie eine Zeitung schrieb. Die Polizei musste einige Marktfrauen in den Vorgarten einer Bierwirtschaft wegführen, um die Situation zu entschärfen. Derweil bemächtigten sich die Demonstrantinnen der Marktstände und nahmen den Verkauf der Ware selber an die Hand. Ein Hauch von Anarchismus umgab die aktivistischen SP-Frauen. An ihren Versammlungen sprachen sie von «autonomer Marktkontrolle».

HÖCHSTPREISE FÜR OBST UND EIER

Diese ebbte aber bald wieder ab. Einen Monat später war der Spuk der Marktdemonstrationen vorüber. Er blieb aber nicht ohne Folgen. Die Sozialistinnen hatten auch den Berner Polizeidirektor Lang belagert. Der war für die Märkte zuständig und musste bessere Kontrollen versprechen. Einen klaren Erfolg verbuchten die Zürcher SP-Frauen. Nach ihrer Intervention setzte der Polizeivorstand im Amtsblatt Höchstpreise für Kirschen, Johannisbeeren, grüne Bohnen und Eier fest. Beim Volkswirtschaftschef des Kantons verlangten sie einen Verkaufszwang und Höchstpreise für Kartoffeln im ganzen Kanton, zudem eine Abgabe von Fleisch zu reduzierten Preisen an bedürftige Familien. Eine Vertreterin des Arbeiterinnenvereins wurde darauf an eine Teuerungskonferenz der Gemeinden eingeladen.

DIE FRAU IM KOMITEE

Diese Strategie trug die Handschrift einer politisch versierten Frau: Rosa Bloch- Bollag (1880–1922), die schweizerische Rosa Luxemburg. Sie war nicht nur die Präsidentin der schweizerischen Arbeiterinnenvereine. Als einzige Frau sass sie auch im Oltner Aktionskomitee, das im November 1918 den Landesstreik der Schweiz organisierte. Bloch war Redaktorin der Blatts «Die Vorkämpferin» und schrieb flammende Aufrufe für die Emanzipation der Frau. Die Bürgerlichen hassten sie wie die Pest und verteufelten sie nach Kräften. Bei ihnen hiess sie nur «Brillanten-Rosa», weil sie früher als Verkäuferin in einem Juweliergeschäft gearbeitet hatte.

Am 10. Juni 1918 war Bloch in aller Munde. An diesem regnerischen Tag führte sie eine «Hungerdemonstration» an. An die tausend Arbeiterfrauen zogen vom Zürcher Volkshaus über die Bahnhofstrasse zum Rathaus. Sie forderten eine sofortige Beschlagnahmung von Lebensmitteln und deren Verteilung an darbende Familien. Auch in Luzern gab es im August 1917 einen Hungermarsch, an dem sich über 3000 Leute beteiligten.

EIN MORD?

Vereint im Kampf gegen die Krise: Marktfrauen verlangen garantierte Höchstpreise für Nahrungsmittel. (Foto: Staatsarchiv des Kantons Bern)

In den berühmten zehn Forderungen zum Generalstreik bezogen sich zwei auf die Ernährungskrise: Ausbau der Lebensmittelversorgung, Staatsmonopole für Import und Export. Dank Rosa Bloch war auch das Frauenstimmrecht im Forderungskatalog des Streikkomitees enthalten. Die Tragik der Geschichte wollte es, dass Bloch just am Ernährungsmangel starb, den sie so sehr bekämpfte. Sie litt an einem Kropf, zu wenig jodiertes Salz war die Ursache. Bei der harmlosen Operation verblutete sie. Ihr Mann Sigfried Bloch glaubte nicht an einen Kunstfehler. Er war überzeugt, dass Rosa umgebracht wurde. Die Marktkrawalle zeitigten Wirkung. Wo sich die Frauen wehrten, seien die Preise spürbar gesunken, schreibt Pfeifer. Doch das Grundproblem konnten die militanten Frauen nicht lösen. Kriegsbedingt hatte sich die Versorgungslage seit 1914 stetig verschlechtert. Die Einfuhr von Weizen ging zurück, Kohle wurde knapp, und die Preise schossen in die Höhe. Innert dreier Jahre verdoppelte sich der Brotpreis, für Eier bezahlte man dreimal mehr, Fleisch war für viele Familien unerschwinglich.

HUNGERNDE ARBEITER

Der Umwelthistoriker Christian Pfister fand heraus, dass schlechtes Wetter und Missernten dazu beitrugen, dass sich die Versorgungsfrage dramatisch zuspitzte. Im Juni 1916 schneite es bis in tiefe Lagen, dann folgte Dauerregen. Der Frühling 1917 war eiskalt. Die Kartoffelernte war mies, Schnee und Regen verdarben das Heu und liessen die Milcherträge einbrechen. Pfi ster spricht für jene Jahre gar von einer «kleinen Eiszeit». In den meisten Arbeiterhaushalten regierte nicht nur König Schmalhans, sondern blanker Hunger. Die Empörung über passive Behörden, Spekulantentum und Hamsterkäufe durch Reiche breitete sich immer mehr aus. So titelte die «Holzarbeiter- Zeitung» im Februar 1917 visionär: «Der Sturm naht.» Der Teppich für den Generalstreik war ausgelegt.

Gedenkjahr: 100 Jahre Landesstreik

2018 jährt sich der Generalstreik zum 100. Mal. Dazu findet am 10. November in Olten ein zentraler Jubiläumsanlass statt. Das Gedenkjahr wird mit zahlreichen Projekten begangen, u. a. einem Laientheater, Ausstellungen, Tagungen, Filmen und TV-Produktionen. Über die geplanten Aktivitäten informiert die Website www.generalstreik.ch. Bereits am kommenden 15. November organisiert der Gewerkschaftsbund in Bern eine Tagung für alle Interessierten. Sie geht den Ursachen, Konflikten und Folgen des Landesstreiks aus der historischen Perspektive nach. Anmeldungen via Website.


Sozialer Sprengstoff: Inflation und Wucher im Weltkrieg «Die Herren Kapitalisten schwimmen im Gold»

Die Aktionäre sahnten ab, das Volk hungerte, und der Bundesrat trödelte: Vor dem Generalstreik 1918 spitzten sich die Gegensätze in der Schweiz zu.

Als 1914 der Weltkrieg ausbrach, war der Gewerkschaftsbund erst 35 Jahre alt. Er zählte 19 Verbände und 65 000 Mitglieder. Nur vier Jahre später hatte sich die Mitgliederzahl fast verdreifacht. Viele Büezer erkannten, dass sie alleine nichts ausrichten konnten. Und setzten aufs Kollektiv. Der enorme Zulauf widerspiegelt aber auch die Industrialisierung. Damals wandelte sich die kleine Schweiz vom Agrarland zur Industrienation. Die Uhren industrie stellte nach Kriegsausbruch um und produzierte Munition auf Teufel komm raus. Viele Geschäfte liefen dank dem Krieg wie geschmiert, Aktionäre wurden reich. Sulzer und Sandoz schütteten Monsterdividenden bis zu 25 Prozent aus. Der «Textil-Arbeiter» schrieb im Mai 1917: «Die Herren Kapitalisten schwimmen im Gold.»

Am Hungertuch: Wie in anderen Ländern auch, führte die Verknappung von Nahrungsmitteln gegen Ende des Ersten Weltkriegs in der Schweiz zu Verteilungskämpfen und sozialer Unrast. (Foto: Titelblatt «Nebelspalter», 19. Mai 1917)

SINKENDE LÖHNE

Die Büezer hatten nichts davon. Während die Lebensmittelpreise explodierten, sanken die Reallöhne um bis zu 30 Prozent. Streiks waren an der Tagesordnung. Auch unter Metallarbeitern: Hatten sie 1905 noch 21 Mal die Arbeit niedergelegt, war es 1917 schon 68 Mal. Die «Metallarbeiter- Rundschau» listete auf Dutzenden von Seiten alle Arbeitskämpfe fein säuberlich auf. Fast immer ging es um Lohn und Teuerungszulagen. Manchmal auch um eine Reduktion der Arbeitszeit von damals zehn Stunden pro Tag. Im Juni 1917 streikten in der Berner Strickereifabrik Ryff & Co. AG 300 Arbeiterinnen mehrere Tage lang gegen Tieflöhne und für eine Teuerungszulage von 20 Prozent. Der Patron offerierte 10 Prozent. Da gingen die Arbeiterinnen wieder an die Maschine.

69 FORDERUNGEN

Aber das Hauptproblem war die Verteuerung der Lebensmittel und der Mieten. Der Gewerkschaftsbund bombardierte den Bundesrat im Monatstakt mit Forderungen nach Notstandsarbeiten, Preiskontrollen, Subventionen für Arbeitslosenkassen, Abgabe von verbilligten Nahrungsmitteln, Höchstpreisen für Kartoffeln, Brotrationen für Schwerarbeiter, Obstausfuhrverboten oder Mindestlöhnen. Eine interne Liste führt zwischen August 1914 und August 1917 insgesamt 69 Forderungen auf. Doch der stockbürgerliche Bundesrat blieb gefangen im wirtschaftsliberalen Dogma. Nur sehr zögernd und viel zu spät erliess er Einschränkungen. Die Brotrationierung kam im Oktober 1917, Fettkarten wurden ab März 1918 ausgegeben. Und erst im Juli 1918 erfolgte die Rationierung von Milch. Das Organ «Der Zimmermann» schrieb: «Der Kampf gegen den Wucher wird mit stumpfen Waffen geführt.»

VERBITTERTE ARBEITER

Dies trieb die Gewerkschaften und die SP auf die Barrikaden. Im August 1917 verlangten die Präsidenten Oskar Schneeberger und Emil Klöti in einer Eingabe an Bundespräsident Edmund Schulthess, weitere Preisaufschläge bei der Milch zu verhindern und ein Kohlenmonopol einzuführen. «Die Erbitterung in der Arbeiterschaft ist derart, dass ein energischer Eingriff nicht mehr umgangen werden darf.»

Um zu zeigen, dass es ihnen ernst war, riefen sie am 30. August zu einem halb tägigen Warnstreik mit Demos im ganzen Land auf. Das war sozusagen die Generalprobe zum Generalstreik gut ein Jahr später. Die «Metallarbeiter- Zeitung» rapportierte zufrieden: «An zahlreichen Orten kam die Empörung der Arbeiterschaft gegen Profitsucht, Schiebertum und Hamsterei, die im System des Kapitalismus und der siebenmal geheiligten Privatwirtschaft ihre Ursachen haben, mächtig zum Ausdruck. » Den Höhepunkt erreichte der Sozialprotest im folgenden November in Zürich. Bei den Strassenschlachten im Anschluss an eine Demo erschossen Polizei und Armee vier Demonstranten.

2 Kommentare

  1. reuter 27. Oktober 2018 um 12:58 Uhr

    könnten sie mir bitte Aufnahmeort und -datum der Fotos zukommen lassen?

    • Maxhara 17. Dezember 2018 um 21:35 Uhr

      Könnten sie mir bitte Aufnahmeort und -datum zukommen lassen?

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.