Teufelskreis

Andreas Rieger

Gegen 10 000 Demonstrierende verlangten am 31. Oktober in Sofia, der Hauptstadt Bulgariens: «Löhne rauf!» Sie wollen eine generelle Erhöhung von rund 50 Euro für alle. Das sind plus 10 Prozent auf den Durchschnittlohn und plus 20 Prozent auf die Tiefstlöhne.

In Bulgarien beträgt der gesetzliche Mindestlohn pro Stunde gerade mal 1,42 Euro, also 230 Euro im Monat. Nirgends in Europa ist er tiefer. Um eine Familie in Bulgarien zu ernähren, braucht es nach Berechnungen der Kampagne für eine anständige Bekleidungswirtschaft, Clean Clothes, vier bis fünf solcher Mindestlöhne! Selbst die NZZ spricht von «Hungerlöhnen».

ELDORADO. Für die Bekleidungsbranche ist Bulgarien ein Eldorado. Hier wird für den europäischen Markt billiger produziert als in China. Multis wie die spanische Modekette Zara profitieren davon. Und die bulgarische Wirtschaft brummt, Prognostiker erwarten für 2017 und 2018 gegen 4 Prozent Wachstum. Aber die Näherinnen, die Bauarbeiter und Krankenschwestern profitieren nicht davon. Ihr Lebensniveau wer­de sich langsam dem westeuropäischen annähern: so versprach man ihnen, als Bulgarien (und andere Ostländer) zur EU kamen.

«Wir wollen nicht der Hinterhof Europas bleiben!»

Aber seit 2007 sind die bulgarischen Löhne, verglichen mit den deutschen, wieder zurückgefallen. Wie übrigens auch die tschechischen, polnischen usw. Deshalb suchen viele Bulgarinnen und Bulgaren im Westen und Norden Europas Arbeit. Auf Baustellen, in der Pflege, aber auch als Akademikerinnen. Seit dem Fall der Mauer sind 3 Millionen Menschen ausgewandert. Das sind gleich viele, wie heute noch in Bulgarien arbeiten. Man stelle sich das mal für die Schweiz vor!

EXODUS. «Wir arbeiten hier für ein Nichts», sagte eine Demonstrantin dem Korrespondenten von IndustriAll. «Die Leute fliehen aus der Misere, ganze Dörfer sind entvölkert.  Zehntausende wandern aus, und uns fehlen deswegen die Fachkräfte. Es ist ein Teufelskreis.» Was ist mit den Versprechungen der EU, fragen sich auch die Gewerkschaften.

Der Präsident der grössten Gewerkschaft Bulgariens, Plamen Dimitrov, verlangt, dass die EU eine Politik der Angleichung nach oben betreibe. Er sagt: «Wir wollen nicht der Hinterhof Europas bleiben!»

Andreas Rieger ist Unia-Sekretär und vertritt den SGB im Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB).

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