Stur wie eine Eselin
Die Wahrheit ist ja bekanntlich ein stark umworbenes, kostbares Gut. Und sieht je nach Blickwinkel sehr unterschiedlich aus.
Wir haben die AHV und die IV. Wir haben die Proporzwahl bei den Nationalratswahlen. Wir haben die 5-Tage-Woche. Und wir haben das Frauenwahl- und -stimmrecht. All diese Errungenschaften gehören heute fest zur Schweiz, so wie Ricola und Matterhorn. Sie erlebten ihre Geburtsstunde am Generalstreik von 1918. Es ist Winter, es ist Hunger, es ist Krieg. Wer ins Militär muss, bekommt keinen Lohnausfall. Arbeiterfamilien darben. Nur die Reichen, die leben gut. Unternehmer und Aktionäre streichen sagenhafte Renditen ein. Schieber und Spekulanten feiern Hochkonjunktur. Die Verbitterung der Arbeiterinnen und Arbeiter ist ein Pulverfass. Am 9. November explodiert es: Das Oltener Aktionskomitee ruft den Landesstreik aus. Arbeiterführer Robert Grimm übernimmt. 250’000 Menschen streiken. Und fordern eine AHV, das Frauenstimmrecht, die 6-Tage-Woche usw. Ein Volksaufstand. Doch General Ulrich Wille sieht rot. Er schickt die Armee aus. In Grenchen töten sie drei junge Männer. Zwei davon mit einem Schuss in den Hinterkopf.
GROSSVATER. Und jetzt kommt SVP-Führer Christoph Blocher und will feiern. Nein, nicht die Geburtsstunde der sozialen Schweiz. Sondern jene, die sie partout verhindern wollten. Blocher will Wille würdigen – und dessen Anpfiff zum Blutbad. Wille, diesen grossbürgerlichen Militärkopf. Wille, diesen glühenden Bewunderer des deutschnationalistischen Kaisers Wilhelm II. Wille, der auch den Grossvater von Historiker und Journalist Stefan Keller gegen die Büezer losschickte. Er war Bauer. Er war Dragoner. Im work erzählt sein Enkel nun, wie sie Grossvater schikanierten. Offiziere, Feldweibel, «diese Herrensöhnchen». Wie er gefroren und gehungert hat. Und wie er Jahre später am Sinn seines Einsatzes gezweifelt hat. Obschon er kein Linker war (siehe Dossier).
NAZIFREUND. Wo ein Wille ist, ist auch ein Wahn: Der General und sein Oberstdivisionär, Nazifreund Emil Sonderegger, verhetzten den grössten Volksaufstand in der Schweizer Geschichte als ferngesteuerten Bolschewiken-Putsch. Und Milliardär und Oberst Blocher tut es heute noch. Aller seriösen historischen Forschung zum Trotz. Die Landesstreikforderungen waren die Blaupause für die heutige Schweiz. Doch unbelehrbar verdreht Blocher weiterhin die Geschichte. Wozu? Die Vergangenheit soll die Gegenwart rechtfertigen. Soll die Politik der SVP legitimieren: Ihren Angriff auf die AHV. Ihren Angriff auf Lohnschutz und flankierende Massnahmen. Ihre Mobilmachung gegen Linke und Gewerkschaften.