Jean Ziegler
Steil fallen die steinigen Hänge des Ávila-Massivs ins Hochtal hinab, in dem die Millionenstadt Caracas, Venezuela, liegt. An den Hängen drängen sich die Ranchos, die Elendsquartiere. Fast unüberschaubar ist der Ozean von Bretterbuden, Wellblechdächern und armseligen Behausungen. In «Nuevo Amanecer» (Morgenröte), einem der ärmsten Ranchos, stehen Menschen Schlange vor einem einstöckigen Betonbau. Dort operieren kubanische Ärzte der «Mission Licht» im Halbstundentakt die vom Katarakt, dem Grauen Star, angegriffenen Augen. Unbehandelt führt der Graue Star zur Erblindung. Die drei Kubaner – zwei Männer und eine Frau – retten den Menschen das Augenlicht. Ich frage nach dem Preis der Operation. Die Antwort: «Wer bezahlen kann, zahlt zehn Dollar.» In Genf kostet die gleiche Operation 3000 Franken.
DER SKANDAL. In der Schweiz sind die Krankenkassenprämien dieses Jahr um durchschnittlich vier Prozent gestiegen. Das ist ein unerträglicher Skandal für Hunderttausende Familien. Erklärt wird dieser Skandal in der bürgerlichen Presse mit der Behauptung «steigender Gesundheitskosten» – als ob die Prämienpolitik der Kassen einem Naturgesetz folgen würde!
Drei Hauptgründe für die unaufhörliche Prämiensteigerung sind: die horrenden Gehälter (und Spesen) der Krankenkassen-Moguln; die Medikamentenpreise, die in der Schweiz durchschnittlich um 30 Prozent höher sind als im benachbarten Ausland; schliesslich die astronomischen Honorare der Spezialärzte.
Schweizer Chirurgen verdienen im Schnitt 1 Million Franken pro Jahr.
Alain Berset ist ein mutiger und energischer Bundesrat. Anfang dieses Jahres hat er den Tarmed, die Maximalvergütung für die ambulante Behandlung durch Spezialärzte, herabgesetzt. Chirurgen verdienen durchschnittlich 1 Million Franken im Jahr – so errechnet vom Genfer Gesundheitsdirektor, Regierungsrat Mauro Poggia («Tribune de Genève», 2. 2. 2018). Die meisten Augen- und Frauenärzte oder Orthopäden liegen in derselben Einkommensklasse. Der ärztliche Berufsverband (FMH) schreit trotzdem Zeter und Mordio.
«QUALITÄT DER MEDIZIN». Valérie Prués-Latour, die Präsidentin der Genfer Orthopäden, hat den Streik der ambulanten Operationen ausgerufen. Augen- und Frauenärzte und die Spezialisten für Handchirurgie sind ihr gefolgt. Angeblich gefährdet Bersets Dekret die «Qualität der Medizin».
Am Montag, dem 29. Januar, versammelte Berset im Kursaal in Bern die jährliche Nationale Gesundheitskonferenz. Vor über 300 Vertreterinnen und Vertretern der Ärzteschaft, von Spitälern, Versicherungen und Pflegepersonal erläuterte er seinen Sparkurs. Und wurde aus den Reihen der Spezialärzte aufs heftigste angegriffen. Zwei sachkundige Regierungsräte eilten ihm zu Hilfe: der schon erwähnte Genfer Gesundheitsdirektor Mauro Poggia und sein ebenso kluger Kollege Pierre-Yves Maillard aus der Waadt. Ihre Voten schufen Transparenz.
Was ist zu hoffen? Dass der Ärztestreik zusammenbricht und dass eine mobilisierte Öffentlichkeit Berset, Maillard und Poggia dezidiert und kräftig unterstützt.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein neuestes Buch, «Der schmale Grat der Hoffnung», ist im März 2017 auf deutsch erschienen.