Gewalt gegen Frauen: Das grosse Thema am Weltsozialforum in Brasilien
«Wir alle sind Marielle!»­

Trauer statt Fest­stimmung: Der Mord an der linken Politikerin Marielle Franco traf Brasiliens Frauen mitten ins Herz. Auch diejenigen am Weltsozialforum.

WUT UND TRAUER: Gegen den brutalen Mord an der Linkspolitikerin Marielle Franco (im gezeichneten Portrait) protestierten in Rio de Janeiro Hunderttausende Frauen und verlangten den Kopf von Brasiliens Präsident Michel Temer. Weil dieser die Gewalt gegen Frauen systematisch schürt. (Foto: Keystone)

Es sollte ein freudiges Treffen werden, das 14. Weltsozialforum in Salvador da Bahia. Strahlendes Wetter, Sommersonne im März, Couscous aus Plasticschalen und Tausende Menschen aus aller Welt, die auf dem Universitätscampus über globale Probleme diskutieren, Kontakte knüpfen und politische Energie tanken (work berichtete).

Doch das globale «Klassentreffen der Fortschrittlichen» ist kaum einen Tag alt, als die brutale brasilianische Realität einbricht.

MORD AUF OFFENER STRASSE

Es geschah am vergangenen 14. März in Rio de Janeiro. Anderson Pedro Gomes schlängelt sein Auto durch den abendlichen Verkehr. Auf der Rückbank sitzt Marielle Franco, Stadtparlamentarierin von Rio de Janeiro und Mitglied der linken Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL).

Plötzlich fallen Schüsse. Die Killer schiessen neun Mal. Vier Schüsse treffen Franco direkt in den Kopf. Die 38jährige ist sofort tot. Auch für ihren Fahrer Gomes kommt jede Hilfe zu spät. Schnell wird klar: Der Mord war minutiös geplant. Als Stadträtin hatte Franco immer wieder Missstände angeprangert. Die Linkspolitikerin war in den Slums aufgewachsen, in den Favelas von Rio, sie war Afrobrasilianerin und alleinerziehend. Sie leitete die städtische Frauenkommission, forderte die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, kämpfte gegen Rassismus und den offenen Drogenkrieg, in den auch immer wieder gewalttätige Polizisten und korrupte ­Militärs verwickelt sind.

Und immer wieder übte Franco hartnäckig Kritik an Brasiliens konservativem Präsidenten Michel Temer. Dieser hatte im Februar die Armee nach Rio geschickt. Offiziell, um die Gewalt auf der Strasse einzudämmen. Doch für Marielle Franco war klar: Diese Massnahme bewirkt das Gegenteil. Nur vier Tage vor ihrem Tod machte sie die Militärpolizei öffentlich für den Mord an drei jungen Favela-Bewohnern verantwortlich.

KÄMPFERIN. Marielle Franco. (Foto: Instagram)

HASS AUF FRAUEN

Der Mord an Marielle Franco hat Brasilien mitten ins Herz getroffen. Kein Tag vergeht mehr, ohne dass Hunderttausende Frauen und Männer auf die Strasse gehen. Von Rio bis Salvador skandieren sie: «Somos todos Marielle!» Wir alle sind Marielle!

Die Frauen führen die Proteste an. Der Anschlag auf Marielle war ein Anschlag auf alle Brasilianerinnen. Denn: Brasilien ist für Frauen eines der unsichersten Länder der Welt. Alle zwei Stunden wird eine Frau ermordet. 2013 waren es mehr als im Kriegsland Syrien. Die ehemalige brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff erliess deshalb 2015 ein Gesetz, das Mord an Frauen aufgrund ihres Geschlechts als eigenen Strafbestand verankerte (Femizid). Gleichzeitig trieb Rousseff Bildungsprogramme voran, die Frauen unabhängig machen sollen. Als das Parlament Rousseff vor rund zwei Jahren absetzte, schwante den Brasilianerinnen deshalb Böses. Und sie täuschten sich nicht. Mit Michel Temer kam ein rechter Macho an die Macht. Sein erster Streich: die Auflösung des Frauenministeriums. Kurz darauf folgte der Angriff auf das Abtreibungsrecht. Dieses ist in Brasilien schon jetzt sehr rigide. Doch Temer und seine evangelikalen Kumpane im Parlament wollen Schwangerschaftsabbrüche jetzt ganz verbieten. Selbst für Vergewaltigungsopfer.

Alle zwei Stunden wird  in Brasilien eine Frau ermordet.

Der «Machismo», bei dem Männer die Frauen als ihr Eigentum betrachten, wird unter Temer offen gefördert. Die brasilianische Organisation SOS Corpo spricht von einer «Explosion des Hasses auf Frauen». Ob auf der Strasse, im Taxi oder beim Konzert unter dem klaren Sternenhimmel – überall ist es hör- und fühlbar. Brasilien bebt. Manche Beobachterinnen machen Bürgerkriegsstimmung aus. Die Angst vor einem Militärputsch geht um.

Temer hat die Sozialausgaben für die nächsten 20 Jahre eingefroren. Er hat das Arbeitsgesetz ausgehöhlt und die Gewerkschaften geschwächt. Die Folge: Sechs Millionen Menschen sind in die Armut zurückgefallen, die Arbeitslosigkeit explodiert. Unter dem Sozialabbau leiden die Frauen ganz besonders. Das weiss die Gewerkschafterin Dulcilene Morais (siehe «Angetroffen am diesjährigen Weltsozialforum»). Sie sagt: «Kommt es zu Entlassungen, trifft es die Frauen zuerst.» Und wer einen Job hat, erlebt nicht selten Belästigung und Gewalt.

Doch die Brasilianerinnen stehen auf und wehren sich. Das war auch am Weltsozialforum sichtbar. Viele der Veranstaltungen, die unter weissen Plasticzelten und in kahlen Unterrichtsräumen stattfinden, sind in Frauenhand. Nicht erst nach dem Mord an Marielle Franco. Mit Trommeln und Parolen ziehen sie über den Campus. Auf einer grünen Wiese stehen unzählige Kreuze in Pink, ein symbolischer Friedhof für die real ermordeten Frauen. Am dritten Tag des Weltsozialforums steht dort ein Kreuz mehr. Das für Marielle.

«MARIELLE LEBT!»

Die Frauen auf dem Pelourinho-Platz im Herzen von Salvador rufen: «Marielle vive!» Sie lebt.

Am zweitletzten Weltforumstag verabschieden rund 5000 Frauen eine internationale Deklaration, die unter anderem das Ende der Gewalt an Frauen fordert. Sei es auf der Strasse, zu Hause oder bei der Arbeit. Ihre Botschaft: Frauen kämpfen gemeinsam – und weltweit.

Corinne Schärer, Unia

«An der nächsten Konferenz der ILO werde ich die Anliegen der Frauen in Brasilien einbringen.»

Diese Botschaft nimmt auch Unia-Geschäftsleitungsmitglied Corinne Schärer von diesem Weltsozialforum mit. Sie sagt: «Was ich hier ge­sehen und gehört habe, werde ich an der Konferenz der Internationalen ­Arbeitsorganisation (ILO) einbringen, mit dem Ziel, dass die Frauen in Brasilien besser geschützt werden.» Die ILO setzt internationale Standards beim Arbeitsrecht. Die nächste Konferenz findet im Juni statt. Thema: «Gewalt an Frauen in der ­Arbeitswelt».

1 Kommentare

  1. Jessica Ribeiro 6. April 2018 um 12:55 Uhr

    Super Text! Ich kannte Marielle vor ihrem Tod nicht. Erst nach dem sie ermordet wurde habe ich über sie recherchiert und bin total beeindruckt. Ihre Taten sind bewundernswert. Brasilianern werden seit Jahren manipuliert.. die Presse hat Korrupten als Sponsoren..alles sehr traurig.. ein Beispiel: ein Teil des Volkes ist sogar gegen Human Rights weil TV meinte, da werden nur Kriminellen bevorzugt.. jetzt hoffen wir auf Batman oder Superman, sonst sehe ich kein Ausweg für diese Generation.

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