Wegweisendes Urteil über das Recht des Zutritts in Betriebe:
Gewerkschaften dürfen rein

Nix Hausfriedensbruch: Firmen müssen die Gewerkschaften in die Betriebe lassen! Das hat das Bundesgericht entschieden. Ein klares Urteil.

ZUTRITT ERLAUBT: Das Bundesgericht stärkt das Recht der Gewerkschaften, in den Betrieben die Arbeitnehmenden zu organisieren. (Foto: Fotolia)

Das war dicke Post für die Tessiner Personalverbände: Im November 2011 beschied ihnen der Kantonsregierungen, dass der Zugang zu den kantonalen Gebäuden zwecks gewerkschaftlicher Tätigkeit «grundsätzlich verboten» sei. Für Raoul Ghisletta vom Tessiner Gewerkschaftsbund war schon damals klar: «Ein Racheakt.» Denn ein Jahr zuvor hatte der VPOD Flugblätter gegen die Einführung des Leistungslohns verteilt. Prompt lehnten die Stimmberechtigten die Vorlage ab. Der VPOD sagte: «Was der Kanton hier macht, ist verfassungswidrig.» Die Gewerkschaft, der christliche Verband OSCT und der Tessiner Beamtenverband fochten den Erlass an.

JURISTEN EINIG

Mit guten Gründen. Schon vor fünfzehn Jahren hielt Anwalt Arthur Andermatt, der Rechtsexperte des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) für solche Fragen, in einem Fachartikel fest: «Die Gewerkschaften dürfen in die Betriebe.» Dies ergebe sich aus dem Koalitionsrecht der neuen Bundesverfassung. Es sei wichtig, dass die Gewerkschaften ihre Mitglieder am Arbeitsplatz aufsuchen und informieren könnten. Nur so könne Sozialpartnerschaft überhaupt funktionieren.

Das Zutrittsurteil ist zentral für die Arbeit der Gewerkschaften.

Auch zwei Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und die Europäische Menschenrechtskonvention fordern dieses Zutrittsrecht. Das passt aber manchen Firmen nicht. Sie verklagten und verklagen immer wieder Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter wegen Hausfriedensbruchs. Bevorzugte Zielscheibe: die kämpferische Unia. Unter den Klägerinnen waren etwa die Migros, aber auch renitente Baumeister. Damit ist definitiv Schluss. Im letzten Herbst hat das Bundesgericht die Beschwerde des Tessiner VPOD gutgeheissen. Gespannt warteten Fachleute auf die Begründung aus Lausanne. In dem vor wenigen Tagen publizierten Urteil heisst es, der Zugang der Gewerkschaften zu staatlichen Gebäuden sei «eine wesentliche Komponente der kollektiven Vereinigungsfreiheit». Und damit zentral dafür, dass die Gewerkschaften ihre Arbeit ausüben könnten.

ÜBERMÄSSIGER EINGRIFF

Ein Zutrittsverbot, wie es die Tessiner Regierung wollte, sei ein «übermässiger Eingriff» in die verfassungsmässig garantierte Koalitionsfreiheit. Damit stellen die höchsten Richter nicht nur die Magistraten in Bellinzona in den Senkel. Sondern gleich auch das Tessiner Verwaltungsgericht. Dieses hatte die Beschwerde abgeschmettert. Zu Unrecht.

Das Zutrittsrecht für Gewerkschaften passt vielen Chefs nicht.

UNNÖTIGE HÜRDEN

Der Tessiner Staatsrat wollte die Gewerkschaftsleute nur mit vielen bürokratischen Hürden und in Randzeiten einlassen. Sie hätten abends einen Saal der Verwaltung benutzen dürfen, dies aber nur mit Bewilligung der Staatskanzlei und unter Voranmeldung mit genau definierten Personen. Selber hätten sie kein gewerkschaftliches Infomaterial verteilen dürfen, sondern dieses den Informations- und Abwartsdiensten der Verwaltung abgeben müssen. Klar, dass unter solchen Umständen echte Gewerkschaftsarbeit unmöglich ist. Das Tessiner Verwaltungsgericht muss nun die Beschwerde im Sinne der Lausanner Richter neu beurteilen. Und das heisst: gutheissen. Nicht nur Experte Andermatt plädiert rechtlich für einen Schutz der Gewerkschaftsarbeit. Auch andere prominente Juristen stützen diese Position.

WEGWEISEND

So der Strafrechtler Marcel Niggli oder der Sozialrechtler Kurt Pärli. Beide strichen vor drei Jahren an einer SGB-Tagung das verfassungsmässige Recht der Gewerkschaften hervor, die Arbeitnehmenden direkt am Arbeitsplatz zu besuchen und zu informieren. Etwas, das in den Nachbarländern Deutschland, Frankreich und Italien selbstverständlich ist und darum auch in den Gesetzen steht. Das Lausanner Urteil bezieht sich nur auf den ­öffentlichen Bereich. Doch Andermatt sagt: «Der Staat hat eine Vorreiterrolle. Regelt das Bundesgericht diesen Bereich, so muss der private Bereich nachziehen.»

1 Kommentare

  1. Saxer Beat 17. Mai 2018 um 14:35 Uhr

    Das finde ich sehr gut!

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