Jean Ziegler
Der 9. April 1948 war ein kühler Frühlingstag in Deir Yassin, einem palästinensischen Dorf im Nordwesten von Jerusalem. Die schwerbewaffneten Mitglieder der israelischen Terrororganisation Irgun warteten in den Büschen. Als kurz nach Mittag die Bauern von den Feldern zurückkamen, eröffneten die Maschinengewehre das Feuer. Dutzende Bauern, Frauen und Kinder starben. Dann fielen die Terroristen über das Dorf her, warfen Handgranaten in die Häuser und erschossen die Flüchtenden. Schliesslich brannten sie Deir Yassin nieder – wie über 400 andere palästinensische Dörfer. Der israelische Historiker Ilan Pappe schreibt: «Das Massaker von Deir Yassin war der erste Akt einer geplanten Strategie der ethnischen Säuberung.»
DRINGENDE HILFE. Tatsächlich flohen seit Mitte April 1948 Hunderttausende von palästinensischen Familien aus ihrer Heimat. Heute leben fast vier Millionen Palästinenser in Flüchtlingslagern in Libanon, in Syrien, Jordanien, dem Irak, in Gaza und in dem seit 1967 besetzten Westjordanland. Um sie kümmert sich die UNRWA, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge. Ihr jetziger Generalkommissar ist der Schweizer Pierre Krähenbühl. Er braucht dringend einen Sonderkredit von 800 Millionen Dollar, um die Hilfen fortsetzen zu können. Denn US-Präsident Trump will den Beitrag seines Landes an die Hilfsorganisation streichen.
Dem Aussenminister fehlt ein Minimum an politischer Vernunft.
Im Mai reiste der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis nach Jordanien. Dort besuchte er ein Flüchtlingslager, in dem bereits die dritte palästinensische Generation lebt. Cassis erklärte mitgereisten Journalisten, dass die UNRWA Frieden im Nahen Osten verhindere. Denn sie halte bei den Flüchtlingen die Hoffnung aufrecht, sie könnten in ihre Heimat zurückkehren. Aber eine solche Rückkehr werde es nie geben.
ZYNISCH. Das Rückkehrrecht ist ein universelles Menschenrecht, das von der Uno geschützt wird. Nur Cassis weiss das nicht. Mit seiner zynischen Äusserung bricht er mit der humanitären Tradition der Schweiz.
Mitte Mai demonstrierten an der Grenze des Ghettos von Gaza Tausende für ein Ende der israelischen Blockade. Israelische Soldaten töteten 61 von ihnen. Der Uno-Menschenrechtsrat trat am 18. Mai zu einer Sondersession in Genf zusammen und verurteilte das Massaker. Auf Geheiss von Ignazio Cassis enthielt sich der Schweizer Botschafter der Stimme.
Man muss kein Genie sein, um als Bundesrat zu amten. Aber ein Minimum an politischer Vernunft und Bildung wäre hilfreich. Cassis besitzt weder das eine noch das andere. Trotzdem wird der Mann wohl seine 12 oder 16 Jahre in Bern absitzen. Eines jedoch wäre möglich und dringend nötig: die Entfernung von Cassis aus dem Aussendepartement, bevor die schweizerische Aussenpolitik völlig im Eimer ist.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein neuestes Buch, «Der schmale Grat der Hoffnung», ist im März 2017 auf deutsch erschienen.