Die bürgerlichen Parteien werfen den Gewerkschaften europapolitische Abschottung vor. Dabei verstehen diese mehr von Volkswirtschaft als der Bundesrat, schreibt die frühere Gewerkschaftsfrau Regula Rytz.
FÜR LOHNSCHUTZ. Nationalräting und Grüne-Chefin Regula Rytz. (Foto: Beatrice Devenes)
Seit sieben Jahren politisiere ich nun in Bundesbern. Und wundere mich täglich, wie wenig hier viele Politikerinnen und Politiker vom Leben der Leute wissen, die kleinere Löhne haben. Als frühere Zentralsekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes kenne ich aber viele tragische Geschichten. 58jährige, die sich nach einem Unfall mit prekären Temporärjobs über Wasser halten. Logistikarbeiter, die eine Krankheit verstecken, um ihre Stelle nicht zu verlieren. Schlechtbezahlte Pflegerinnen am Rand der Erschöpfung. Für sie alle muss der Schutz der Löhne und Arbeitsbedingungen verteidigt werden. Sonst verlieren die bilateralen Verträge rasch an Zustimmung. Mit ihrer konsequenten Haltung sind die Gewerkschaften nicht die Totengräberinnen, sondern die Garantinnen für eine Öffnung der Schweiz.
«Ich wundere mich, wie wenig man im Bundeshaus vom Leben der Leute mit kleineren Löhnen weiss.»
SOZIALER SPRENGSTOFF. Die Gewerkschaften hatten den bilateralen Verträgen im Jahr 2000 nur zugestimmt, weil diese an flankierende Massnahmen zum Schutz der Löhne und der Arbeitsbedingungen gekoppelt waren. Denn jedes Kind weiss heute: Die Schweiz mit ihrer starken Währung und dem hohen Lohn- und Preisniveau kann den Arbeitsmarkt nur öffnen, wenn sie die ortsüblichen Arbeitsbedingungen durch Gesamtarbeitsverträge und Kontrollen schützt. Sonst kommen die einheimischen Löhne und das Handwerk in den Grenzregionen unter die Räder. Das wäre sozialer Sprengstoff – und Knetmasse für die Rechtspopulisten.
Anstatt dem Druck der EU-Kommission nachzugeben, muss der Bundesrat die flankierenden Massnahmen vehement verteidigen. Sie schützen auch die europäischen Arbeitnehmenden in der Schweiz. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie es läuft ohne Schutz.
Zum Beispiel bei zwei Akkordmetzgern aus Ostdeutschland. Sie wurden von einem Schlachthof in der Schweiz brutal übers Ohr gehauen. Sie mussten nicht nur finanziell drauflegen. Sie wurden auch in ihrer Würde tief verletzt. Es würde mich nicht wundern, wenn sie heute die harte, rechte AfD wählten. Denn sie haben am eigenen Leib erfahren, dass die herrschende Politik sich nicht für sie interessiert. Die Rechtspopulisten sind allerdings keinen Deut besser. Es sind die Gewerkschaften, die für Recht und Menschlichkeit kämpfen. Grenzüberschreitend wollen wir die flankierenden Massnahmen zu einem Erfolgsmodell für ganz Europa machen!