Mit einem aufsehenerregenden Streik hat das Personal einer psychiatrischen Klinik in der Normandie die Schaffung von 30 neuen Stellen erzwungen.
BIS ZUM LETZTEN: Ein Notfallteam rettet einen Pfleger der psychiatrischen Klinik Rouvray (Normandie). Er hatte mit einem Hungerstreik gegen die miserablen Zustände dort protestiert. (Foto: Grève de la faim au rouvray/Facebook)
Am 5. Juni musste Manos Kappatos, 51, in Rouen (Normandie) von der Sanität gerettet werden. Er wurde unter dem donnernden Applaus seiner Arbeitskolleginnen und -kollegen, der Ärzte und Pflegenden der psychiatrischen Klinik Rouvray weggetragen. Der Psychiatriepfleger Kappatos war im Hungerstreik und hatte in 16 Tagen 21 Prozent seines Körpergewichtes verloren. Es ging um Leben und Tod. Vor ihm waren schon ein hungerstreikender Arzt und ein weiterer Pfleger zusammengebrochen. Thomas Petit, 50, minus 12 Kilo an jenem Tag, sass bleich unter dem Protestzelt und sagte: «Es ist ein fürchterliches Paradox, dass wir vom medizinischen Personal unser Leben aufs Spiel setzen müssen, um gehört zu werden.»
«Wir füttern. Und geben die
chemische Keule. Basta.»
HOFFNUNGSLOS ÜBERBELEGT
Die Mediziner der Psychi in Rouen hatten zum extremen Mittel gegriffen, das «eigentlich im Widerspruch zu unserer Ethik steht», weil die Zustände in der Klinik für Patienten und Personal menschenunwürdig geworden waren. Kranke leben in umfunktionierten Büroräumen zusammengepfercht. Mindestens 50 Betreuende fehlten. Da ist kaum noch Zeit für Therapien, trotz Sonderschichten. Psychiatrie-Pflegefachfrau Susanne L. sagt: «Wir füttern. Und geben die chemische Keule. Basta. Manche Kollegen nehmen selbst auch eine Pille oder zwei.» Max B., 48, bald 20 Jahre im Haus und Chef über fünf Pflegeeinheiten, konstatierte im Juni: «Die Grenzen sind erreicht. Wir sollen immer mehr mit immer weniger Mitteln leisten. Jetzt führt die Überarbeitung schon zu Streit zwischen den Berufsgruppen im Personal. Die Patienten leiden.»
ENDLICH: 30 NEUE STELLEN
Monatelang hatten sie mit Hilfe der Gewerkschaften CGT und Sud gekämpft, den Premier und die Gesundheitsministerin alarmiert, die Regionalverwaltung besetzt. Im März traten sie schliesslich in einen unbefristeten Streik. Ihre wichtigsten Forderungen: 52 zusätzliche Stellen. Und die Einrichtung einer Abteilung für Jugendliche. Als die Verwaltung darauf mit der Ankündigung einer weiteren Betriebsanalyse auf Zeit spielte, beschlossen acht Pflegende ihren Hungerstreik. Vor dem Eingang der Klinik prangte ein riesiger Stinkefinger. Daneben stand: «Das ist ihre Antwort.» Und darüber: «Ici on crève», «hier verreckt man». Vom Dach hing ein Tuch: «Das Spital der Schande».
Doch erst als mit Thomas Petit, dem Kopf der Bewegung, der vierte Hungerstreikende auf der Notfallstation des Unispitals Rouen eingeliefert wurde, rührte sich die Politik. Am 8. Juni sagte sie die Schaffung von 30 neuen Stellen zu.
Macron spart:Sterben auf dem Spitalgang
CHEFSPARER: Macron. (Foto: Keystone)
Ein kleiner Eingriff. Ambulant, halbes Stündchen. Die Sache ist um 8 Uhr angesetzt. Gegen 16 Uhr erscheint die Ärztin. Alles abgesagt. Mangels Instrumenten. Die Sterilisierungsabteilung kann nicht schnell genug sterilisieren. Seit der letzten Sparübung fehlt das Personal.
So geht das im Sommer 2018 in La Timone, dem grossen Universitätsspital in Marseille. Jetzt arbeiten die Ärztinnen, Ärzte und das Notfallpersonal in Kitteln, auf denen steht: «Grève», Streik. Sie versorgen Wunden, richten Brüche, operieren, retten Leben. Doch symbolisch sind sie im Ausstand. So wie das Spitalpersonal in Dutzenden von Spitälern quer durchs Land.
DESASTRÖSE LAGE. Die Weiss- und Blaukittel streiken nicht etwa für besseren Lohn. Sie protestieren, weil ihnen die Menschen in den überlasteten Notfallaufnahmen auf den Bahren in den Gängen sterben. Eine Studie der Notfallärzte in 100 Spitälern zeigt, dass zahlreiche Eingelieferte in Korridoren sechs, acht und mehr Stunden auf einen Arzt warten. Einige sterben dabei.
In Paris beging ein Arzt Selbstmord am Arbeitsplatz.
Die Todesrate auf überlasteten Notfallstationen steigt um 30 Prozent, schätzen die Mediziner. 1000 Ärztinnen und Ärzte alarmierten die Gesundheitsministerin. Die Lage sei «schlicht desaströs» schrieben sie, die Sparbefehle der Regierung bedeuteten nichts als die Gefährdung fremder Leben. Eine Petition wurde in wenigen Wochen 300’000 Mal unterschrieben. In Paris beging ein Arzt Selbstmord am Arbeitsplatz. Aus Verzweiflung.
MACRON SCHLÄGT ZU. Doch Präsident Emmanuel Macron mag solche Dinge nicht hören. Die dringende Gesundheitsreform verschob er auf den Herbst. Nicht, dass irgendjemand davon eine Lösung erwartete. Macron, der als erste Amtshandlung 2017 Frankreichs Reichen viele Milliarden geschenkt und den Schutz der Arbeitenden per Arbeitsgesetz geschleift hatte, lässt keine Gelegenheit aus, den öffentlichen Dienst und die soziale Sicherheit zu attackieren. Den Widerstand der Eisenbahner hat er gebrochen. Jetzt holt er zum grossen Schlag gegen das Gesundheitswesen aus. Von einer sehr vertraulichen Gruppe Konzernchefs und hoher Beamter, die sich Cap 22 nennt, liess er dafür ein rabiates Sparpogramm zusammenbrauen. Der Bericht sickerte in Teilen durch. Nach den Sommerferien, so hat Präsident Macron seine Minister angewiesen, sollen sie Massnahmen vorlegen.