Hunger, Kinderarbeit, Streik und Tote. Das ist der Zündstoff, aus dem das Theaterspektakel zum Landesstreik gemacht ist. Eine der Hauptrollen spielt eine grossartige SBB-Halle.
GIGANTISCH: Frauen schieben einen alten Eisenbahnwagen an, als Zeichen für das langwierige Ringen um das Frauenstimmrecht. (Foto: Keystone)
«Der Krieg ist vorbei!» Das singen die Soldaten von den Dächern der alten SBB-Hauptwerkstätte in Olten. So beginnt das Theater «1918.ch – 100 Jahre Landesstreik», das Regisseurin Liliana Heimberg mit über 100 Laienschauspielenden inszeniert hat. Die riesige alte SBB-Werkhalle macht das Stück erst möglich: Von den Kindern bis zu den Senioren spielen sie vor, hinter, auf und unter der Bühne. Fenster, Stützpfeiler und alte Arbeitsutensilien kommen zum Einsatz. Draussen fahren die Züge im Bahnhof Olten ein und aus. In schnellem Rhythmus wechseln die Szenen, der Chor singt, die Basler Sinfonietta spielt.
Dazwischen immer wieder die Helvetia, als Anführerin, als Schlichterin, als Richterin. Der Erste Weltkrieg ist zwar vorbei, der Schweiz jedoch steht die grösste Zerreissprobe seit der Gründung des Bundesstaates bevor. Während General Ulrich Wille in Solothurn von der Regierung ein Festmahl serviert bekommt, darben die Leute. Sie müssen bei den Suppenküchen anstehen. Aus Protest schlagen sie mit den Löffeln auf den Boden. Den Munitionsfabrikanten geht es hingegen gut, der Krieg beschert ihnen ein dickes Geschäft.
Die Fabrikarbeit ist hart, lange und schlecht bezahlt – auch Kinder chrampfen dort. In einer scheinbar endlosen Reihe schieben die Arbeiterinnen und Arbeiter Palette durch die Werkhalle. Die Spanische Grippe wütet, sie rafft besonders junge Menschen zu Tausenden dahin. Der Chor singt: «Der Tod hat noch Hunger, trotz Krieg».
Ein grosses Erlebnis und unbedingt sehenswert.
FESSELND. Die Gewerkschaften mobilisieren. Und die Frauen. Sie fordern den Acht-Stunden-Tag, das Frauenstimmrecht, die AHV. Das Oltener Aktionskomitee ruft den Streik aus. Doch Wille und sein Oberstdivisionär, Nazifreund Emil Sonderegger, verhetzen den grössten Volksaufstand in der Schweizer Geschichte als ferngesteuerten «Bolschewikenputsch». Sie wollen draufhauen. Regisseurin Heimberg lässt die Armee mit gleissendem Scheinwerferlicht von draussen in die Halle einfallen: rechts, links, rechts, links, sie kommen. In Grenchen töten sie drei junge Männer. Doch plötzlich ist Schluss: Bevor der Streik richtig beginnt, bricht ihn die Regisseurin schon wieder ab. Seltsam blass zeichnet sie auch Wille, diesen glühenden Bewunderer des deutschnationalistischen Kaisers Wilhelm II. Weiträumig umschifft sie auch die eigentliche Gretchenfrage des Landesstreiks: Wollte die Armeeführung eine Konfrontation provozieren, um endlich bei der Arbeiterschaft aufzuräumen?
1918.ch bietet alles und noch viel mehr, eine fulminante Bilderexplosion, Eisenbahnwagenverschiebungen, Tempo und Action, starken O-Ton, tausendundein Kostüm, vollen Körpereinsatz und klangvolle Lieder. Scharf zeichnet Heimberg die soziale Not und die Wut der Frauen. Ein grosses Erlebnis. Ein riesiges Spektakel. Unbedingt einen Besuch wert. Nur eines irritiert: Warum wagt es Heimberg nicht, auch bei den Mächtigen genau hinzuschauen?