Zwei Frauen und ein Mann möchten an die SGB-Spitze. Drei Portraits.
NOMINIERT. Der Waadtländer SP-Staatsrat Pierre-Yves Maillard möchte an die Spitze des Gewerkschaftsbunds. (Foto: Keystone)
Pierre-Yves Maillard: Kandidat der Unia
«Wir müssen wieder lernen zu gewinnen»
Wacher Blick, gebündelte Energie, zum verbalen Sprung bereit: PYM, Pierre-Yves Maillard, ein echter 68er, damals im März kam er in Lausanne zur Welt. Als Sohn eines Garagisten. Mit 18 gewann er einen Wettbewerb für angehende Fussballreporter: Fussball, das war sein Ding. Und Stürmer ist er geblieben, allerdings in der Politik. Mit 22 stürmte er ins Lausanner Gemeindeparlament, mit 29 ins Waadtländer Kantonsparlament, mit 31 in den Nationalrat, mit 36 in den Waadtländer Regierungsrat. Von 2000 bis 2004 war Maillard Regioleiter bei der Gewerkschaft Smuv. 2011 kandidierte er für den Bundesrat – gegen Marina Carobbio und Alain Berset. Und jetzt, mit 50, will PYM oberster Gewerkschafter werden.
DAS FALSCHE TRAM
Alle Augen im Unia-Saal sind auf einen Mann gerichtet. Nicht alle mit Wohlwollen. Die Unia-Frauenkonferenz hätte lieber eine Frau. Und einem Westschweizer Delegierten im Zentralvorstand ist Maillard zu biegsam gegen rechts. Seinen Steuerdeal mit FDP-Finanzminister Pascal Broulis hat er ihm nie verziehen. 2015 akzeptierte Maillard die Senkung der Unternehmenssteuern, weil sich die Unternehmen im Gegenzug verpflichteten, ihren Anteil an die Finanzierung verschiedener Sozialeinrichtungen wie Kinderkrippen zu erhöhen. Und der Staat verpflichtete sich seinerseits, unter anderem die Krankenkassenprämien auf 10 Prozent der Einkommen zu begrenzen. Die Linken von Solidarités, die PdA und Teile der Gewerkschaften lancierten das Referendum gegen das «giftige Päckli» – und verloren.
Maillard schreitet, Maillard grüsst, Maillard setzt sich und legt los: «Jetzt bin ich heute morgen doch tatsächlich ins falsche Tram gestiegen, dabei war ich früher so viel in diesem Haus. Höchste Zeit, wieder mehr hierherzukommen.» Für ihn ist die Unia deshalb «der natürliche Ort», um um Unterstützung für seine Kandidatur als SGB-Präsident zu bitten. Und ja, er sei keine Frau, aber bis zur Wahl sei das auch nicht mehr zu ändern, sticht Maillard mitten ins Explosive. Als er von der Findungskommission kontaktiert worden sei, habe er sich zuerst erkundigt, ob Männerkandidaturen überhaupt erwünscht seien. Und weil sie es seien, «bin ich jetzt da: Bonjour, chères et chers collègues!».
«Stimmt, ich bin keine Frau, aber …»
DAS GLEICHSTELLUNGSGESETZ
Im Falle seiner Wahl sei er auch gerne bereit, eng mit SGB-Vizepräsidentin Vania Alleva zusammenzuarbeiten. Die Umsetzung der Lohngleichheit sei auch sein Ziel: «Es braucht Lohnkontrollen gegen die Lohndiskriminierung. Und die müssen ins Gleichstellungsgesetz.» Und: Es gebe keinen Grund, weshalb die Pflege ein Sektor mit vor allem lausig bezahlten Frauen bleiben müsse: «Wir Gewerkschaften müssen da mehr investieren.»
Rasant und präzis zündet Maillard seine Sätze. Jedenfalls auf französisch. Auf deutsch tönt es weniger elegant, obwohl er mit einer Deutschschweizerin verheiratet ist. Doch auf französisch schafft er rhetorisch fast alles: Sympathie ausschicken, Charme verbreiten und Nähe erzeugen. Etwa beim Thema Migrationspolitik: Er wendet sich gegen jegliche Diskriminierung von Migrantinnen und Migranten. Wie könnte er auch nicht, sagt er, er lebe schliesslich in Renens, Tür an Tür mit Migrantenfamilien. Maillard: «Vor den Sommerferien kam mein Sohn nach Hause und sagte: ‹Papa, lass uns nach Kosovo in die Ferien gehen, bitte, bitte!›» Wieso denn das? wollte Maillard wissen. Und der Bub: «Alle in der Klasse gehen nach Kosovo.»
SGB-Präsidium: Viel Arbeit, mässiger Loh
Viele meinen, das Präsidium des Gewerkschaftsbunds sei ein Vollamt, weil die Person ja so viel in den Medien ist. Fehlanzeige. Formell ist es kaum mehr als ein Halbamt. Entschädigt mit 13 Mal 4150 Franken, macht knapp 54’000 Franken im Jahr. Ein kleiner Lohn verglichen mit anderen Chefposten. Definitiv ein Job für Profis, die nicht auf die Uhr schauen. Das SGB-Präsidium bringt Einfluss, fordert aber leidenschaftlichen Einsatz. Wer auf Paul Rechsteiner folgt, entscheiden die Delegierten des SGB am Kongress vom 30. November / 1. Dezember im Kursaal in Bern. (rh)
DAS SECHSSEITIGE PROGRAMM
Maillard kann erzählen, und er kann mobilisieren: Als Regioleiter des Smuv brachte er frischen Wind in die behäbige Waadtländer Gemütlichkeit. Er unterstützte die Belegschaften bei SAPAL, Castolin, Coca-Cola, Veillon oder Portescap in ihrem Widerstand gegen Verlagerung oder Schliessung und ging mit den Leuten bis zum Streik.
Deshalb ist Maillard auch verhandlungs- und kampferprobt. Und er hat ein politisches Programm. Voilà! Das Bewerbungsschreiben, das er dem Unia-Zentralvorstand vorlegt, hat sechs dichtbeschriebene A4-Seiten. Brisant ist seine Position zu Europa. Das EU-Projekt sei für die Gewerkschaften schwierig, sagt er, weil es ein neoliberales Projekt sei. Maillard steht deshalb hinter dem Rote-Linie-Entscheid von Rechsteiner: «Der Lohnschutz ist nicht verhandelbar.» Bringe die EU sozialen Fortschritt, so «können wir Ja sagen zu EU-Integrationsschritten», bringe sie jedoch Rückschritte, dann «dürfen wir das nicht unterstützen», sagt Maillard, bei dem auch die Sozialpolitik ganz oben auf der Agenda steht.
Ein Lohn reiche für viele Familien schon lange nicht mehr. Auch wenn Frau und Mann erwerbstätig seien. Maillard: «Es braucht deshalb dringend lohnergänzende Massnahmen: Krippengeld, Familienzulagen und Ergänzungsleistungen, gerade auch für alleinerziehende Frauen.» Auch das habe er in der Waadt umgesetzt.
Maillard hätte noch tausend Sachen zu sagen, doch seine Vorstellungszeit ist abgelaufen. Nur noch schnell das, ruft er nun in den Saal: «Wir müssen wieder gewinnen lernen! Auch wenn man in die Defensive gedrängt wird, kann man gewinnen.» Maillard geht. Kandidatin Barbara Gysi kommt (siehe unten). Dann stimmt die Unia ab. Maillard ist nominiert. (Marie-Josée Kuhn)
Barbara Gysi: Kandidatin des Bundespersonalverbands «Es braucht eine Frau an der SGB-Spitze»
KANDIDATIN. SP-Nationalrätin Barbara Gisy wäre erst die zweite Präsidentin in der SGB-Geschichte. (Foto: Keystone)
Es war 2011, als Barbara Gysi (54) in den Nationalrat einzog. Paul Rechsteiner hatte gerade die Ständeratswahl im Kanton St. Gallen gewonnen. Die SP-Politikerin stand zuoberst auf dem Ticket. Ihre Karriere hat Gysi in langen Jahren aufgebaut: als Sozialpädagogin, auf dem Parteisekretariat der St. Galler SP, im Kantonsrat, als Fraktionschefin und als Sozialvorsteherin an ihrem Wohnort, dem katholisch geprägten Wil SG.
«Frauen holen wir mit anderen
Parolen ab als Industriearbeiter.»
Sie ass das harte Brot für Linke in der Ostschweiz. Seit dem Einzug in den Nationalrat ist sie Berufspolitikerin. Gut vernetzt, sowohl in Bern als auch in der Ostschweiz, diverse Mandate im Sozialbereich zeugen davon. In St. Gallen leitet sie den Gewerkschaftsbund und in Bern den Personalverband des Bundes (BPV). Dieser hat sie nun offiziell ins Rennen ums SGB-Präsidium geschickt. Geht die Rechnung auf, würde Gysi erneut in Rechsteiners Fussstapfen treten. Und wie dieser müsste sie als oberste Gewerkschafterin im Land kämpferischere und weniger kämpferische Gewerkschaften vertreten, eine nicht ganz einfache Aufgabe. Wie würde sie das tun? Gysi sagt: «Die kämpferischen möchte ich nicht bremsen, die weniger kämpferischen aber dennoch integrieren.» Eine austarierte Antwort.
SPEZIELLE STRATEGIEN
Gewerkschaftlich ist Gysi beim VPOD und bei der Unia organisiert. Ihre Kandidatur begründet sie explizit mit den Fraueninteressen: «Es braucht endlich eine Frau an der Spitze der Gewerkschaftsbewegung.» Sie will dafür sorgen, dass die Frauenanliegen einen höheren Stellenwert erhalten. Der Anteil der Frauen in den Gewerkschaften müsse steigen, hier bestehe noch Potential. Aber dafür brauche es spezielle Strategien. Gysi: «Frauen holt man mit anderen Parolen ab als Industriearbeiter.» Und eine weibliche SGB-Spitze könne dies glaubwürdiger vertreten. Gysi will sich dafür einsetzen, dass das Frauenrentenalter bei 64 bleibt und die Diskriminierung der Frauen in der 2. Säule aufgehoben wird.
FRAUENSTREIK NÖTIG
Für entscheidend hält sie die Pflicht zu Gesamtarbeitsverträgen. Noch viel zu wenige profitierten von einem GAV. Es sei vordringlich, diese Pflicht auszuweiten, insbesondere im Gesundheits- und im Sozialbereich. Sie selber hat in Wil einen GAV für Heimstätten ausgehandelt.Und soll es nächstes Jahr einen Frauenstreik geben? «Ja», sagt Gysi mit Blick auf die Lohnungleichheit, «der ist nötig.» Es müsse aber auch die Arbeitszeit verkürzt werden. Gysi: «Hier braucht es endlich wieder einen Schritt vorwärts. Das würde gerade den Frauen zugute kommen.» (Ralph Hug)
Marina Carobbio: Noch nicht nominierte Kandidatin
«Mehr Lohnschutz und mehr Solidarität»
ÜBERLEGT NOCH. Tessinerin Marina Carobbio will sich bald entscheiden, ob sie sich zur Wahl stellt. (Foto: Keystone)
Es ist nicht leicht, sie ans Telefon zu bekommen. Marina Carobbio Guscetti (52) hat im Moment viel zu tun. In Bern ist Session, sie ist Vizepräsidentin des Nationalrats. Ab Dezember wird sie ein Jahr lang «höchste Schweizerin» sein, die erste Tessiner SP-Frau in diesem Amt. Dann muss sie Geschäfte vorbereiten, Sitzungen leiten, repräsentieren. Also viel Arbeit. Ausgerechnet dieses Ehrenamt erweist sich jetzt als Hürde. Denn Marina Carobbio hat auch am SGB-Präsidium Interesse. Kann sie beide Ämter zugleich ausüben? Das gilt es abzuklären. Sie lässt den Ausgang offen. Sowohl ein Co-Präsidium als auch ein Rückzug aus dem Rennen wären mögliche Optionen, sagt sie zu work.
DIE BRÜCKENBAUERIN
Im Hause Carobbio in Lumino TI hatte Politik schon immer Vorrang. Bereits Vater Werner Carobbio, ein linker Querdenker, politisierte für die SP im Nationalrat. Tochter Marina verdiente ihre Sporen im Tessiner Kantonsparlament ab. 2007 gelang ihr der Sprung ins Bundesparlament. Bei der Nachfolge von Micheline Calmy-Rey im Jahr 2011 stand sie neben Pierre-Yves Maillard zur Wahl, doch Alain Berset obsiegte. Liegt es an der selektiven Optik, dass man sie trotz allem in der Deutschschweiz weniger gut kennt? Immerhin besetzt Carobbio namhafte Vizepräsidien, etwa bei der Sozialdemokratischen Partei, beim Mieterinnen- und Mieterverband oder bei der Alpeninitiative. Den Mieterverband leitete sie mehrere Jahre auch selbst. Perfekt dreisprachig, sorgte sie als Brückenbauerin für den Ausgleich zwischen den verschiedenen Lagern.
«Der Frauenstreik steht bei mir ganz oben auf der Liste.»
Für das SGB-Präsidium empfiehlt sich Marina Carobbio als Wahrerin der Fraueninteressen. Der Kampf gegen Lohnungleichheit und Prekarität steht bei ihr ganz oben. «Gerade im Tessin ist der Lohndruck gross, ich kenne das sehr gut.» Wichtig ist für sie eine Verstärkung des Lohnschutzes, ebenso eine Neuauflage des Frauenstreiks. Sie macht auch schon in einer Vorbereitungsgruppe im Tessin mit. Sodann liegt ihr ein guter Service public am Herzen, besonders eine funktionierende Gesundheitsversorgung.
DIE ÄRZTIN
Carobbio ist Ärztin und Mutter von Laura (14) und Matteo (22). Zeit für die Mitarbeit in der Gruppenpraxis in Roveredo GR hat sie aber kaum noch. Politik geht vor, aber nicht nur in den Institutionen, sondern auch mit Engagierten an der Basis. Zum Beispiel in Solidaritätskomitees für Zentralamerika oder für das gebeutelte Griechenland. Im Juni kam sie von einer Studienreise aus Athen zurück. Sie sah viel Armut, aber auch sehr viel Solidarität. (Ralph Hug)