Jean Ziegler
Als Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung hatte ich einmal eine Begegnung in Yarmuk, einem palästinensischen Flüchtlingslager südlich von Damaskus, die ich nie vergessen werde. In einer Schulkantine sass ein kleiner palästinensischer Junge von vielleicht sechs Jahren vor einem Teller voll Reis und schwarzen Bohnen. Er war sichtlich hungrig. Trotzdem rührte er das Essen nicht an. Der mich begleitende Vertreter der UNRWA sagte: «Er hat Hunger, aber er will nicht essen. Er möchte die Nahrung mit seiner Familie teilen. Aber das verbieten wir, die Kinder müssen essen, hier. Die tägliche Schulmahlzeit ist oft die einzige solide Nahrung, die sie erhalten.»
ROSTIGE SCHLÜSSEL. UNRWA, das ist das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten. Die Organisation wurde 1949 geschaffen, um den über 750’000 Palästinenserinnen und Palästinensern zu helfen, die damals von der siegreichen israelischen Armee aus ihren Dörfern vertrieben worden waren. Vier Generationen später leben heute 5,3 Millionen Menschen unter unwürdigen Bedingungen in den meist überfüllten Flüchtlingslagern im Westjordanland, in Gaza und den Nachbarstaaten Israels. Dort betreibt die UNRWA Schulen für über eine halbe Million Kinder. Dazu Spitäler, Kulturzentren, Bibliotheken oder Werkstätten. Allein das Schulsystem kostet jährlich über 800 Millionen US-Dollar.
Davon bezahlte Washington im letzten Jahr 350 Millionen Dollar. Am 17. September verkündete US-Präsident Donald Trump, sein Land werde ab sofort seine Beiträge an die UNRWA streichen. Denn gemäss Trump hält die Hilfsorganisation bei den Flüchtlingen die Hoffnung auf eine Rückkehr am Leben. Und tatsächlich: In Yarmuk und anderen Lagern habe ich sehr oft gesehen, dass an einer Wand der elenden Hütten ein alter, rostiger Schlüssel hing. Es war der Schlüssel des Hauses, aus dem die Menschen im heimatlichen Palästina vertrieben worden waren.
Unser Parlament muss dringlichst dem inkompetenten
Aussenminister Cassis das Handwerk legen.
DIE HOFFNUNG NEHMEN. Für Trump und die israelische Regierung darf es keine Rückkehr und damit keine Hoffnung und keine UNRWA geben. Ihr finanzieller Zusammenbruch wäre für die Palästinenserinnen und Palästinenser nach der Vertreibung, die sie «Nakba» (arabisch: Katastrophe) nennen, eine weitere Katastrophe.
Geführt wird die Hilfsorganisation seit 2014 vom klugen, mutigen Schweizer Pierre Krähenbühl. Er kämpft um den Fortbestand der Schulen, Schulspeisungen und der Spitäler. Die Schweiz hat die UNRWA bis anhin verlässlich und grosszügig unterstützt. Bundesrat Ignazio Cassis will das ändern. Er hat sich gegen das Recht auf Rückkehr der Palästinenser und damit wie Trump gegen die Arbeit der UNRWA ausgesprochen. Unser Parlament muss dringlichst dem inkompetenten Aussenminister das Handwerk legen.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein neuestes Buch, «Der schmale Grat der Hoffnung», ist im März 2017 auf deutsch erschienen.