Jean Ziegler
11. September 1973. In Santiago de Chile steht der Präsidentenpalast in Flammen. Chilenische Kampfflugzeuge fliegen Bombenangriffe. Die ganze Innenstadt ist umzingelt von aufständischen Truppen. Die Leibwache des Präsidenten kämpft bis zum Schluss. Gegen 14.30 Uhr stirbt Salvador Allende, die Maschinenpistole in der Hand.
Der Ermordung des drei Jahre zuvor zum Präsidenten der Republik gewählten Kinderarztes aus Valparaíso war ein zweijähriger Wirtschaftskrieg vorausgegangen. US-Präsident Richard Nixon und sein Aussenminister Henry Kissinger hatten ihn organisiert. Von den USA bezahlte Generalstreiks, eine totale internationale Finanzblockade und Sabotageakte in grosser Zahl hatten Chile ruiniert. «Wir erleben ein stilles Vietnam», sagte uns – einer Delegation der Sozialistischen Internationale – Allende ein paar Monate vor seinem Sturz.
In Venezuela geht es einmal mehr um die Zerstörung einer demokratisch gewählten Regierung.
AUSSTRAHLUNG. Das nordamerikanische Imperium konnte Allendes fortschrittliche Sozialpolitik und ihre Ausstrahlung auf ganz Lateinamerika nicht ertragen. Und es wollte die Kontrolle über das chilenische Kupfer zurückgewinnen. Das Land ist der zweitgrösste Kupferproduzent der Welt.
24. August 2017. US-Präsident Donald Trump befiehlt die ersten Massnahmen einer Finanz- und Wirtschaftsblockade gegen Venezuela. Wie gegen Allende geht es auch diesmal um die Zerstörung einer demokratisch gewählten Regierung, deren Sozialreformen Millionen Menschen in Lateinamerika begeistern. Dazu kommt das Erdöl: In Venezuela liegen die grössten Vorkommen der Welt.
Der junge Berufsmilitär und Reformer Hugo Chávez wurde 1999 zum Präsidenten Venezuelas gewählt. Er starb 59jährig am 5. März 2013 an einem rätselhaften Krebsleiden. Als Sonderberichterstatter der Uno für das Recht auf Nahrung habe ich ihn mehrmals getroffen und mit ihm über sein Sozialprogramm diskutiert.
Sein Vizepräsident Nicolas Maduro – von Beruf Busfahrer und ehemaliger Sekretär der Transportarbeitergewerkschaft – folgte ihm nach. Im Mai 2018 wurde Maduro für fünf Jahre zum Präsidenten gewählt. Die unter sich zerstrittenen Oppositionsparteien nahmen an der Wahl nicht teil, bestritten jedoch ihren Ausgang und damit die Legitimität Maduros.
Chávez und sein Nachfolger haben das wunderschöne Land verwandelt. Von den 31 Millionen Venezolanerinnen und Venezolanern sind gemäss Uno-Statistik 9 Millionen dem extremen Elend entkommen. Vom Erdöl des Landes profitieren zu Sonderpreisen viele arme Staaten, zum Beispiel Haiti, Nicaragua, Grenada oder Kuba.
BLOCKADE. Trumps Wirtschafts- und Finanzblockade hat seit 2017 schreckliche Folgen für das geplagte Volk. Die Deviseneinnahmen erwirtschaftet zu 92 Prozent der verstaatlichte Erdölsektor. Die Staatsgesellschaft Petróleos de Venezuela, die den technologisch hochkomplexen Förderprozess in Gang hält, bekommt keine Ersatzteile mehr. Die internationalen Finanzbeziehungen beschränken sich auf Russland und China.
Bloss 40 Prozent der Nahrungsmittel und nur ganz wenige Medikamente werden im Inland hergestellt. Unter dem Konsumgüterboykott und der astronomischen Inflation leiden die Menschen fürchterlich. Zwei Millionen sind mittlerweile ins Ausland geflohen.
SÖLDNER. Januar 2019. Bei einer Massendemonstration der Opposition tritt der schneidige 35jährige Parlamentspräsident Juan Guaidó ans Mikrophon und proklamiert sich zum Präsidenten des Landes. Nur: Die letzten Parlamentswahlen wurden vom Obersten Gerichtshof in Caracas wegen massiven Wahlbetrugs für ungültig erklärt.
Das Imperium und sein Söldner Guaidó verlangen die sofortige Absetzung Maduros und neue Präsidentschaftswahlen. Maduro ist bereit zum Dialog und schlägt Neuwahlen des Parlaments vor. Die EU folgt dem Imperium und will sich der mörderischen Blockade anschliessen.
So auch die Schweiz. Bénédict de Cerjat, Chef der Lateinamerika-Abteilung im Aussenministerium (EDA), erklärt per Twitter Guaidó zum legitimen Präsidenten Venezuelas. Dieser unmögliche Schweizer Botschafter und seine Komplizen sind eine Schande für unser Land.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor.
Aufgewacht
Schon im März 2016 hatte Obama Venezuela als „außergewöhnlichen Bedrohung für die nationale Sicherheit und Außenpolitik der Vereinigten Staaten“ erklärt und bestehende Sanktionen gegen das unbotmässige Land verschärft. Dank Trump ist nun Jean Ziegler offenbar aufgewacht und verurteilt diesmal, im Gegensatz zu Jugoslawien, Libyen und Syrien, unzweideutig die Aggressionen des US-Imperiums gegen ein Land des Südens. Hat Dumpfbacke Trump mit dem Guaidó-Coup den Bogen überspannt, zumal anscheinend auch wieder vermehrt auf die Linke gezählt werden kann?