Jean Ziegler
Ich war beeindruckt, als mich die Nachricht aus Wien erreichte, dass seit Anfang Oktober letzten Jahres in der österreichischen Hauptstadt wöchentlich Demonstrationen gegen die aktuelle Regierung des Landes stattfinden. Mir ist in lebhafter Erinnerung, wie sich die österreichische Zivilgesellschaft im Jahr 2000 gegen die damalige Regierung von Wolfgang Schüssel und Jörg Haider organisierte und die Tradition der Donnerstagsdemonstrationen begründete.
JEDEN DONNERSTAG. Damals stand auch ich einmal mit anderen europäischen Intellektuellen und Tausenden von Demonstranten und Demonstrantinnen auf dem riesigen Platz vor dem Stephansdom. Diese Tradition wurde nun wieder aufgegriffen – mit beeindruckenden Zahlen: An der ersten neuen Donnerstagsdemonstration nahmen mehr als 15’000 Menschen teil. An den folgenden Donnerstagen kamen jeweils bis zu 10’000. Und es soll auch in diesem Jahr weitergehen!
Doch vergessen wir nicht: Im Jahr 2000 war das autoritäre und rassistische Regierungsprojekt von Schüssel und Haider das einzige in Europa. Damals ging ein Aufschrei durch die europäische Öffentlichkeit. Heute stehen wir vor einer gänzlich anderen Situation. Die zerstörerische Idee einer antiliberalen Demokratie hat sich in Europa wie ein Virus ausgebreitet: In Ungarn, Polen, Italien und anderen Ländern sehen wir äusserst gefährliche antidemokratische Tendenzen.
In Österreich selbst ist die Situation noch gefährlicher als im Jahr 2000. Die Regierung ist durchsetzt von Mitgliedern rechtsradikaler Burschenschaften. Sie diffamiert kritische Journalistinnen und Journalisten und entzieht zivilgesellschaftlichen Organisationen, die ihnen nicht genehm sind, die Förderung. Gleichzeitig organisiert sie eine gewaltige Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben, beispielsweise durch die Einführung des 12-Stunden-Arbeitstages. Zudem ist sie mitverantwortlich für die fürchterliche Tragödie der Flüchtlinge, denen die Prüfung ihres Asylantrags in Europa verweigert wird.
DER KURZE DONALD. Der schneidige Bundeskanzler Sebastian Kurz produziert gesellschaftliche Analysen, die jenen von Donald Trump ähneln. Dauerarbeitslosigkeit, soziale Isolation, extreme Armut? Diese Leiden sind zwar bedauerlich. Aber Kurz hat in einer Rede vor wenigen Tagen die Ursachen erklärt: Die Armen sind arm, weil sie faul sind. Wenn die normalen Menschen «in der Früh aufstehen», um zur Arbeit zu gehen, bleiben die Armen liegen.
Umso wichtiger ist es, dass die Zivilgesellschaft von neuem aufsteht: gegen Rassismus und Ausgrenzung, gegen die Aushöhlung des Rechtsstaates und gegen die zunehmende Ungleichheit. Ich bewundere die Vitalität, den Mut und die revolutionäre Geduld der Donnerstagsdemonstrantinnen und -demonstranten. Ihre Aktion ist beispielhaft für ganz Europa.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor.