Katrin Bärtschi ist Briefträgerin in Bern und Gewerkschafterin.
«Verdammt!» denkt die Briefträgerin. Ein Brief hat sich zwischen die andern im Kistli verkrochen. Einen A-Post-Brief, erst noch einen von Hand adressierten und mit einer Marke beklebten, zur Zeit zuzustellen ist Ehrensache. Dem Zeitteufel zum Trotz.
Der Weg ist schmal, die Briefträgerin kann das Fahrzeug nicht wenden. Zu Fuss trabt sie, den Brief in der Hand, zurück zum letzten Haus – und sieht im Fenster den Affen. Ganz klassisch hängt er an einem Ast, mit der linken Hand hält er sich fest, seine Rechte fasst eine Banane. Ein grosses Fensterfarbenbild!
«Jetzt bin ich schon hundert Mal an diesem Haus vorübergeeilt und habe den Affen nie gesehen!» denkt die Briefträgerin. «Wie bewege ich mich eigentlich durch meinen Arbeitstag? Gring abe u seckle?»
Einen A-Post-Brief zur Zeit
zuzustellen ist eine Ehrensache.
DREIMASTER. Vielleicht hängt der Affe noch nicht lang in diesem Fenster. Doch er erinnert die Briefträgerin an ähnliche Gegebenheiten: Wie oft ging sie in der Freizeit durch das Quartier und bemerkte plötzlich hier einen verschnörkelten Balkon, dort entlang einer Häuserfassade einen schwindelerregenden Katzensteg, hier einen seltenen Strauch im Garten und dort eine Malerei unter einem Dach! «Dinge, die ich nie wahrnahm!» denkt die Briefträgerin, «Obwohl ich unzählige Male an ihnen vorübereilte.»
Oder hinter Gittern der alte Dreimaster, ein buntes Schiff, das sicher seit Ewigkeiten durch das verstaubte Kellerfenster segelt. Unbeachtet von den Briefträgerinnen und Briefträgern, die keine zwei Meter davon entfernt in Windeseile Ballast abwerfen.
ER GRINST. Der Trottoirrand, die Einfassungen der Hauszugänge, die Kastenschlitze – sie bilden den Horizont der Briefträgerin, des Briefträgers im Einsatz.
Auf dem Weg zurück zum Fahrzeug wendet die Briefträgerin sich noch einmal um. Der Affe sieht ihr nach, mit seinen grossen blauen Augen. «Er grinst», denkt die Briefträgerin. «Er grinst, als wollte er mir sagen: ‹Lass dich nicht zum Affen machen …›».