Walter Bader (55) macht in der Fundzentrale der SBB in Bern eine detektivische Arbeit. Und landet manchmal selbst in einem Krimi.
ETWAS VERLOREN? Walter Bader sorgt dafür, dass wir sie wieder erhalten. (Fotos: Franziska Scheidegger)
7000 verlorene Gegenstände, 7000 Geschichten. Und mittendrin Walter Bader. Er ist Fachspezialist Fundservice in der SBB-Zentrale in Bern. «Über all die Geschichten rund um die verlorenen Objekte könnte ich ein Buch schreiben», sagt er und lacht. «Hier in der Zentrale lagern wir ungefähr 7000 Gegenstände. Aber insgesamt haben wir im letzten Jahr 129’000 Gegenstände erfasst, und weit über die Hälfte davon konnten wir den Besitzerinnen und Besitzern zurückgeben», erklärt er. Nicht ohne Stolz. Denn er war schon dabei, als die verlorenen Objekte noch an den Bahnhöfen gelagert und zurückgegeben wurden, an denen sie abgegeben worden waren.
Damals lag die «Trefferquote» nur bei 30 Prozent. Bader sagt: «Das neue System, das wir 2004 eingeführt und vor gut zwei Jahren erneuert haben, ist viel effizienter.» Alle Gegenstände, die in Zügen oder auf SBB-Gelände gefunden werden, kommen nach Bern. Jeweils am Morgen werden die Gegenstände gebracht und dann von Bader und seinen neun Mitarbeitenden registriert. Maximal sechs Minuten haben sie pro Gegenstand zur Verfügung. Die Erfassung der Gegenstände benötige viel Erfahrung, sagt Bader. «Es braucht das Füürli, etwas, das einen chutzelet.» Und genau diese detektivische Arbeit mache den Job interessant. «Mit der Zeit weiss man, wann es sich lohnt, etwas mehr Zeit zu investieren. Wir dürfen nicht denken, ‹eh, diese Dächlikappe werfe ich weg›. Sondern, ‹schau, da hat es eine Unterschrift drauf, schon ziemlich verbleicht zwar, aber noch sichtbar›. Die Kappe hat also schon einen Wert.»
KONTROLLFRAGEN. Einige Merkmale halten die Mitarbeitenden der Fundzentrale nur intern fest, damit sie den möglichen Besitzerinnen und Besitzern Kontrollfragen stellen können und sich niemand einen Gegenstand ergaunern kann. Gleichzeitig können Personen, die etwas verloren haben, auf der SBB-Website eine Verlustmeldung aufgeben. Ergibt sich eine Übereinstimmung, beginnen die Gegenstände am Tag 2 ihre Reise zurück zum rechtmässigen Besitzer. Dieser kann das gute Stück am Tag 3 am Bahnhof seiner Wahl abholen.
«Am häufigsten vergessen die Fahrgäste ihre Handys», erklärt Bader. Im letzten Jahr waren es über 15 000 Stück. «Und davon konnten wir knapp 70 Prozent zurückgeben.» Den zweiten Platz belegen die Rucksäcke, unmittelbar vor den Mänteln und Jacken. Die Gegenstände, die am häufigsten wieder zu ihren rechtmässigen Besitzern oder Besitzerinnen finden, sind mit 83 Prozent die Reisetaschen, das Schlusslicht machen die Kopfbedeckungen mit einer Rückgabequote von lediglich 6,6 Prozent.
Natürlich gebe es auch saisonale Schwankungen, erklärt Bader. Im Frühling und im Herbst hätten sie viele Jacken, da es morgens kalt und abends warm sei. «Oder wenn es am Morgen regnet und am Abend nicht mehr, dann regnet es bei uns Regenschirme.» Auch Grossanlässe bekommen sie in der Fundzentrale zu spüren. So hätten sie während der Fussballeuropameisterschaft plötzlich Tausende oranger Schals von Niederlande-Fans «an Lager» gehabt.
«Obwohl wir leider nicht sehr viel Kontakt zu den glücklichen Besitzerinnen und Besitzern haben, erhalten wir doch Dankesbriefe und erfahren so manch schöne Geschichte», sagt Bader. Etwa von dem Mann, der etwas verschämt seine Sporttasche abholen ging. Er hatte verfaultes Essen und schmutzige Sportwäsche erwartet. Stattessen fand er trocken und fein säuberlich gefaltet seine Kleidung vor. «Natürlich sortieren wir Nahrungsmittel aus», erklärt Bader. «Und feuchte Schuhe oder Kleider lassen wir trocknen, bevor wir sie verschicken.»
GESUCHT & GEFUNDEN: Die SBB-Fundzentrale erfasst und lagert die vergessenen Gegenstände.
VERGESSLICHER FAKIR. Doch es bleiben längst nicht nur solch banale Objekte liegen: Zu den exquisiteren Gegenständen gehört das Fakir-Set inklusive ausgestopfter Kobra und Flöte. Oder ein Configlas mit «Omas Gallensteinen, 1966». Eine dramatische Geschichte würde wohl das Brautkleid erzählen oder die Sträflingsjacke des Hochsicherheitsgefängnisses Alcatraz in San Francisco. «Die war echt», versichert Bader, «wir haben das geprüft.» Einem Krimi entsprungen scheinen der Krummdolch, der Laserblitzer oder der Giftring (leer). Das vergessene Glasauge, die Beinprothese oder der Elektrorollstuhl wiederum lassen wie im Märchen eine plötzliche Heilung vermuten. «Und wir haben auch skurrile Verlustanzeigen», sagt Bader. So etwa der Mann, der wissen wollte, wo der Koffer seines Vaters sei. Dieser habe ihn 1922 in einem Schweizer Zug vergessen. Bader sagt: «Der Mann wurde ziemlich unfreundlich, als wir ihm sagten, dass wir diesen Koffer leider nicht hätten.»
Heutzutage bleiben die verlorenen Gegenstände drei Monate in der Fundzentrale. Wenn sich bis dahin niemand meldet, schicken sie die Mitarbeitenden an die Firma Fundsachen.ch. Diese wiederum versteigert die Sachen oder gibt sie an Hilfswerke. Fundsachen.ch «putzt» auch die Handys, Tablets und Laptops, damit der Datenschutz gewährleistet ist, und verkauft sie dann wieder. Nur die iPhones nicht. Dort erlaubt Apple keine vollständige Datenlöschung.
Die grösste Herausforderung in seinem Job sei eigentlich, dass das Fundbüro nicht rentiere, sagt Bader. Aber seine Chefinnen und Chefs hätten verstanden, dass Leute, die ihre verlorenen Sachen wiederbekämen, wohlwollendere Kunden seien. «Deshalb habe ich die Möglichkeit, den Fundservice laufend zu verbessern.» So kann er eine Dienstleistung am Leben erhalten, die zwar für die SBB nicht lukrativ ist, aber eben ein spezieller Service für die Fahrgäste.
Walter Bader Bähnler & Turner
Walter Bader (55) ist seit 1981 bei den SBB. Angefangen hat er mit einer Lehre als Kondukteur. Zur Bahn kam er eher zufällig. «Ich bin zur Aufnahmeprüfung, und da waren ein paar Hundert Leute, die sich für diese Ausbildung beworben haben. Ich dachte, ich hätte keine Chance.» Aber da er bilingue ist (die Mutter war eine Welsche), hätten sie ihn genommen. Danach war er 13 Jahre lang als Zugbegleiter unterwegs. Später arbeitete er am Bahnhof, bei der Abteilung Gepäck und Fundbüro.
PAPAGEI. Erzählt er von seiner Zeit als Kondukteur, klingt es wie eine Geschichte aus längst vergangener Zeit. Kondukteur war damals ein sehr technischer Beruf. Bader musste Wagen koppeln, Bremsen kontrollieren und ausrechnen, wie schnell der Lokführer fahren durfte. Denn die Geschwindigkeit war abhängig von der Anzahl der Wagen, dem Lokomotiventyp, der Strecke und dem Gefälle. Beim Rückwärtsfahren mussten sie für die Lokführer die Signalbilder pfeifen. Bader sagt: «An den Bahnhöfen haben wir die Züge mit einer Schrillpfeife abgefertigt.» In Moutier BE sorgte dies für Verwirrung. Denn dort hatte es auf einem Balkon einen Papagei, der die Züge abpfiff. «So stand ich eines Tages auf dem Perron, und der Zug war weg.»
TEILZEIT. Walter Bader wohnt in Gerolfingen BE. Er ist verheiratet, hat vier Kinder und fünf Enkelkinder. Bader stammt aus einer Turnerfamilie, war selbst jahrelang Trainer und auch im Bähnlersport aktiv. Seit 1983 ist Bader Mitglied der Bähnlergewerkschaft SEV. Er arbeitet 70 Prozent in der SBB-Fundzentrale.