Algeriens Junge machen ihre Revolution. Kreativ und gewaltfrei. Die Generäle versuchen, ihr brutales System zu retten.
UNERSCHROCKEN: Die algerische Jugend fordert in Algier ein Ende der «Zombie-Diktatur» von Präsident Bouteflika. (Foto: Getty)
Update vom 2. April: Algerien feiert – und bangt: Nach erneuten Massendemonstrationen am 29. März und einem Ultimatum der Armee ist Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika am 2. April zurückgetreten. Zehntausende feierten den ersten Sieg der gewaltlosen Revolution. Doch am 5. April wollen sie wieder auf die Strasse, denn es ist unklar, ob die Armee die Demokratisierung Algeriens zulassen will.
Auf den Strassen von Alger und in 45 anderen Städten riefen Millionen Menschen: «Haut ab!». Schluss mit Präsident Abdelaziz Bouteflika, Schluss mit den Generälen, weg mit dem System. Seit seinem Schlaganfall vor sechs Jahren spricht Bouteflika (82) nicht mehr. Sein Blick ist leer. Der Mann stirbt ewig. Er ist eine Präsidentenattrappe, hinter der sich sein Clan und das algerische Machtkartell verbergen. Auf einem Plakat stand: «Wer zieht die Fäden der Mumie?»
Am 26. März liess die Armee Bouteflika fallen. Generalstabschef Gaid Salah, bisher ein enger Vertrauter des Präsidenten, sagte, Bouteflika sei geistig und physisch unfähig, das Land zu führen.
Es ist der Moment aller Gefahren. Mustapha Bouchachi, der algerische Menschenrechtsanwalt, vermutet hinter dem Sturz Bouteflikas ein Manöver der Generäle, um das System zu retten. Bei Redaktionsschluss am 27. März hatten diverse Gruppen schon dazu aufgerufen, die Demos am Freitag weiterzuführen.
Seit fünf Wochen fordern sie das Ende der Diktatur: Studenten und Arbeiterinnen, Anwältinnen und Arbeitslose, islamische Bärte neben Feministinnen. Sehr viele Frauen, manche mit Kopftuch, andere in Jeans und Lederjacke wie eine 17jährige Ballerina, die in rosa Ballettschuhen vor algerischer Flagge Spitze tanzt. Auf Transparenten steht: «Game over!».
«Die Mauer der Angst ist gefallen.»
ALGERIEN BEFREIEN
Algier, die Gequälte, gibt sich ein neues Gesicht. Diese Massendemos sind kreative Feste. Es wird viel gesungen, etwa «Youm Echâab» («der Tag des Volkes») mit dem Refrain «Befreit Algerien!». Oder die Spottgesänge aus den Fussballstadien, wo sich die Regimekritik noch formulieren konnte: «Diebe, ihr habt das Land gefressen.» Der Westen wird vor Interventionen wie etwa in Libyen gewarnt: «USA, Hände weg von unserem Öl!» und «Macron, kümmere dich um deine gelben Westen!». Und immer wieder ertönt der Slogan «Silmiyya, silmiyya!», «friedlich, gewaltlos!». Die Demonstrierenden reichen Blumen, sie sammeln Abfall ein. Sie wissen, dass sie auf dem Vulkan tanzen. Algeriens Obristen schreckten noch nie vor einem Massaker zurück (siehe unten «Eine blutige Geschichte»). Nur ist diesmal etwas anders, stellt die algerische Psychoanalytikerin Karima Lazali fest: «Die Mauer der Angst ist gefallen.» Fast die Hälfte der Bevölkerung ist unter 25. Sie hat weder den Befreiungskrieg gegen Frankreich noch den Bürgerkrieg nach 1991 erlebt. Sie ruf: «Generäle, beim ersten Blutstropfen kommt ihr vor Gericht.»
DER FEIND IST DIE «HOGRA»
Nichts an dieser Revolution ist unerwartet. Ihr gingen Rebellionen in allen Landesteilen voraus. Seit 18 Monaten bereiteten Streiks der unabhängigen Gewerkschaften das Terrain vor. Tausende von lokalen Komitees reagieren auf jede Bewegung des Regimes. Die politischen Parteien werden auf Distanz gehalten: «Wir trauen nur uns selbst.» Es ist auch keine Hungerrevolte. Der arabische Frühling nach 2010 brach hier nicht durch, weil das Regime den sozialen Frieden erkaufte. Mit billigen Krediten, Wohnungen, Sozialhilfe, ein paar Brosamen von den 1000 Milliarden Dollar Ölgeld, die Algeriens Oligarchie in 15 Jahren für sich behielt, statt das Land aufzubauen.
Inzwischen wurden die Subventionen gestrichen. Immens reiche Militärs und Oligarchen liefern sich Verteilkämpfe. Korruption regiert und übermächtige Sicherheitsdienste verbreiten Willkür. Zehntausende junge Algerierinnen und Algerier müssen ihre Lebenschancen im Ausland suchen. Ihr Feind ist die «hogra», die Verachtung der Herrschenden.
Erst malten die Kolonialherren das Bild von brutalen, ungebildeten Massen, dann übernahmen die eigenen Militärs die Karrikatur. Jetzt zeigen diese Jungen Klarsicht, strategisches Mass, die Kraft einer gewaltlosen Revolution. Es ist ihre zweite Dekolonialisierung. Die algerische Schriftstellerin Kaouthar Adimi sagt: «Wir kommen aus einem langen Tunnel. Niemand mehr wird uns aufhalten.»
Algerien war das Vorbild der Befreiungsbewegungen der 1960er und 1970er Jahre. Unter einem Aussenminister namens Bouteflika. Jetzt zittern die Potentaten der arabischen Welt erneut.
«Youm Echâab»
(Song: «Youm Echâab / #NonAu5Mandat», via Youtube, aufgerufen am 29.03.19, unter: youtu.be/MX4b5WUehzY)
Revolutionen brauchen Lieder und Revolution schaffen ihre Lieder. Wie «Youm Echâab» (youm el châab), was sinngemäss bedeutet: Der Tag, an dem das Volk sein Schicksal in die eigenen Hände nahm. Eine Gruppe von algerischen Musikern (Amel Zen, Djam, Petit Moh, Amine Chibane, Salima Abada und viele andere Künstler) hat es in einem Video ins Bild gesetzt (eine Augenweide). Im Refrain singen sie: «Heute wird das Volk Algerien befreien».
FREIHEIT. Der Text kritisiert das Regime, vor allem aber ist er ein Programm für ein offenes, demokratisches Algerien. Er beginnt mit der Zeile: «Mutter, heute brauchen wir Deine Gebete, denn wir, Deine Kinder gehen auf die Strasse um die Demokratie zu gewinnen. Aber keine Angst, wir sind zivilisiert» und weiter: «Wir kommen nicht, um zu zerstören…, wir wollen die individuelle und kollektive Freiheit, wir tun es friedlich, mit Rosen und Jasmin.» An das Regime gerichtet: «20 Jahre lang ertragen wir eure Verachtung schon, und ihr wollt immer noch mehr… wir ertrinken im Meer, ihr aber lasst euch im Ausland pflegen… aber nun ist genug, ihr kommt damit nicht mehr durch… wir nehmen es in die Hand…, wir schaffen das neue Algerien.» Freie Medien, gute Bildung, demokratische Rechte, unabhängige Justiz und andere Themen werden besungen, in dialektalem Arabisch, mit einer Passage in der Berbersprache Kabylisch.
Algerien: Eine blutige Geschichte
«Es gibt nur einen Helden, das Volk»: Strassenszene in Algier, 1962. (Foto: AFP)
R., Arzt in der Stadt Constantine im Osten Algeriens, machte seinen Militärdienst. An einem Freitag musste sich seine Truppe mit Bärten und langen Gewändern verkleiden. Sie fuhren in die Berge und massakrierten ein Dorf, vom Neugeborenen bis zur Greisin. Das algerische Regime schrieb die Greueltat den Islamisten zu.
R. desertierte, wurde von der algerischen Militärpolizei geschnappt und gefoltert. Am Ende flössten sie ihm Säure ein. Er überlebte. Das war in den späten 1990er Jahren, auf dem Höhepunkt des «schmutzigen Kriegs» der Militärjunta gegen die eigene Bevölkerung, bei dem mehr als 150’000 Menschen starben und Zehntausende verschwanden.
BEFREIUNG UND PUTSCH. Was damals geschah, ist heute gut dokumentiert durch Menschenrechtsorganisationen und die Zeugnisse ehemaliger Militärs. Es war, wie der algerische Ökonom Omar Benderra sagt, «eine innere Kolonialisierung» als Fortsetzung einer blutigen Geschichte.
Algerien, 42 Millionen Menschen, ist das grösste Land Afrikas. 1962 befreite sich das Land aus der französischen Kolonialherrschaft. Der Preis war hoch, französische Militärs töteten mehr als eine halbe Million Menschen (1 Million Tote, sagen algerische Quellen). Das Land wurde zum Leuchtturm der antikolonialen Befreiungsbewegungen rund um den Globus. 1988 erzwangen blutig unterdrückte Jugendrevolten die Demokratisierung. Die islamische Heilsfront (FIS) gewann die Wahlen. Darauf machte der Putsch einer Militärjunta 1992 der Demokratisierung ein Ende, es folgten die «10 schwarzen Jahre». 1999 setzten die Generäle Abd al-Aziz Bouteflika als neuen Präsidenten ein.