Die Migros lässt Leute für ein Sackgeld arbeiten
Der orange Amigo-Kapitalismus

Der neue Migros-Lieferdienst Amigos macht auf Nachbarschaftshilfe. work hat ihn getestet und zeigt, was ­wirklich dahintersteckt.

KATZE AUS DEM SACK: Der orange Riese verkauft seinen Lieferdienst Amigos als sozial, dabei geht es um eiskalten Plattform-Kapitalismus. (Foto: work)

Bananen, Hackfleisch, Papiertaschentücher: Mit einem Klick landet alles im Warenkorb. Die neue Einkaufsplattform der Migros unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht von anderen Webshops. Die Einkäufe liefert aber nicht ein Paketdienst nach Hause oder ein Migros-Fahrer, sondern ein Amigo, ein Freund. So persönlich heisst denn auch die Plattform: Amigos, Freunde.

Seit knapp einem Jahr läuft das Pilotprojekt in den Kantonen Bern und Zürich. Die Migros schreibt dazu wohlklingend, im Vordergrund stehe nicht das Geld, sondern «das Bestreben, Migros-Kundinnen und -Kunden einander näherzubringen». Die Gebühr für die Lieferung komme voll und ganz den «Bringern» zugute: «Die Migros erzielt keinen Gewinn.» Sie bemüht sogar ihren Gründer Gottlieb Duttweiler und sein Engagement für das Gemeinwohl: «So lebt auch Amigos vom sozialen Gedanken, dass die Leute füreinander da sind und sich gegenseitig unterstützen können.»

«Social Shopping» sagt die Migros dem. Die Amigos erhalten keinen regulären Lohn, sondern nur ein «Taschengeld» – wie der orange Riese wörtlich schreibt. Es sei auch «nicht die Idee, dass jemand Amigos als Nebenjob nutzt». Viele Bringer würden die Auslieferung «mit dem eigenen Einkauf verbinden» oder «machen sie in der Freizeit». 30 bis 40 Minuten betrage der Zeitaufwand pro Lieferung, so die Migros. So weit die orange Eigenwerbung. Aber wie sieht die Wirklichkeit aus? Wer sind diese Amigos, die sich von der grössten Detailhändlerin (Umsatz 2018: 28,4 Milliarden Franken) für ein Trinkgeld einspannen lassen? work hat den Amigo-Test in der Stadt Bern gemacht.

«Die Migros will aus der Hilfs­bereitschaft Profit schlagen.»

7 FRANKEN 90 PRO STUNDE

11.10 Uhr: Sandra Berger * steht zusammen mit ­ihrem kleinen Sohn vor der Tür, in der Hand die Migros-Tasche mit der Lieferung. Sie musste die Waren aus dem eigenen Sack bezahlen. Nach ­Abschluss der Lieferung bezahlt ihr die Migros das Geld zurück, plus 7 Franken 90 für die erste Einkaufstasche und 2 Franken für jede weitere. Weil dies ihr allererster Amigos-Auftrag ist, bekommt sie sogar die doppelte Grundgebühr, also 15 Franken 80.

Die junge Frau arbeitet 50 Prozent in einem Büro. Mit Amigos bessert sie ihr Haushaltseinkommen auf. Deshalb ist ihr auch «ehrlich gesagt egal», wem sie die Einkäufe bringt. Die nächste Lieferung bringt Marco Hug *. Er macht die Berufsmatur, arbeitet daneben 20 Prozent plus drei bis fünf Amigos-Lieferungen pro Woche. Im Schnitt brauche er etwa eine Stunde pro Auftrag, sagt er. Eigentlich hatte er sich für andere Jobs im Detailhandel beworben, an der Kasse oder im Kundendienst. Fand aber keine Stelle. Jetzt macht er halt das.

Wer bei Amigos bestellt, gibt ein Zeitfenster an, in dem die Ware geliefert werden soll. Doch als work eine dritte und vierte Bestellung aufgibt, nimmt innerhalb dieses Zeitfensters niemand den Lieferauftrag an. Kommt Amigos vielleicht gar nicht so richtig ins Rollen?

DUTTI DREHT SICH IM GRAB UM

Die Migros räumt auf Anfrage ein, dass sie für das Pilotprojekt eine «Anschubfinanzierung» leiste. Für die erste Bestellung schenkt sie den Einkaufenden die Lieferkosten. Danach berechnet sie ihnen jeweils nur 5 Franken Grundgebühr statt 7.90. «In den nächsten Wochen» will die Migros entscheiden, ob sie Amigos auf andere Regionen ausweitet. Vorher würde man aber «das rechtliche Konstrukt nochmals überarbeiten». Hat sich Migros-Gründer Dutti ob dieser neuen Form von orangem Plattform-Kapitalismus (siehe Text unten) vielleicht laut im Grab umgedreht?

ES GEHT UM MARKTANTEILE

Eine, die sich mit dem Migros-Lieferdienst Amigos wissenschaftlich befasst, ist die Soziologin Sarah Schilliger. Sie erforscht an der Universität Basel prekäre Arbeitsverhältnisse und nennt Amigos «die kommerzielle Verwertung von Nachbarschaftshilfe» – und keineswegs ein soziales Projekt. Der Migros gehe es in erster Linie darum, Marktanteile zu sichern. Schilliger: «Anstatt dass die Migros für die Heimlieferung einen richtigen Lohn zahlt, will sie aus der Hilfsbereitschaft ihrer Kundinnen und Kunden Profit schlagen.»


Uber & Co.:Prekäre Arbeit, Dumpinglöhne – und ­keine AHV

Die Migros ist nicht das erste Unternehmen in der Schweiz, das Leute für ein Taschengeld beschäftigt. Der mittlerweile eingestellte Dumping-­Taxidienst «Uber Pop» funktionierte ebenfalls nach diesem Muster. Die Swisscom schickt unter dem Label «Mila Friends» technisch versierte Anwenderinnen und Anwender aus der Nachbarschaft zu ihrer Kundschaft, etwa um den neuen Internet-Router zu installieren. Der Preis für die Dienstleistung wird direkt mit dem «Friend» (Freund) abgemacht.

Ein Algorithmus sucht für jede neue Aufgabe eine Arbeitskraft. Das ist Kapitalismus in Reinkultur.

PLATTFORM-PRINZIP. Und Ikea arbeitet fürs Ausliefern der Möbel in Genf mit der Lieferfirma Trusk zusammen, die vorwiegend Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Frankreich beschäftigt. Monats-(Dumping-)Lohn: 1900 Franken. All diesen Diensten gemeinsam ist das Plattform-Prinzip: Ein ­Algorithmus sucht für jede neue Aufgabe eine Arbeitskraft. Das ist Kapitalismus in Reinkultur. Früher, ohne Computer, war es nicht rationell, für jede kleine Aufgabe eine Person zu suchen und danach wieder zu entlassen. Deshalb entstanden Firmen, die ihre Arbeiterinnen und Arbeiter mit einem Vertrag längerfristig anstellen. Doch heute ist es möglich, mit ein paar Klicks selbst winzigste Aufträge an einen Markt mit Tausenden Arbeitskräften zu vergeben. Damit verschiebt sich das Machtgefüge in der Arbeitswelt noch mehr zugunsten der Firmen: Mindestlohn, Kündigungsschutz, Ferienanspruch, Streikrecht – davon wollen solche Plattformen meist nichts wissen. Sarah Schilliger, Expertin für prekäre Arbeitsverhältnisse an der Uni Basel, sagt: «Arbeit gibt’s dort nur auf Abruf, befristet, flexibilisiert und ohne jegliche soziale ­Sicherung wie AHV, Arbeitslosen- oder Krankentaggeld.»

KANTON MUSS HANDELN. Und die nächste Plattform steht bereit: Wieder ist es der US-Gigant Uber. In Genf und Lausanne lässt er schon Mahlzeiten per Velo oder Töff ausliefern, unter anderem für McDonald’s. Ohne Unfallversicherung, ohne AHV-Beiträge, zu Dumpinglöhnen. Bald soll «Uber Eats» auch in Zürich starten. Die Unia fordert jetzt den Kanton auf, aktiv zu werden. Lorenz Keller von der Unia Zürich-Schaffhausen fordert: «Die Volkswirtschaftsdirektion muss prüfen, ob ‹Uber Eats› die Schweizer Gesetze einhält. Und zwar bevor sich die Firma in Zürich festsetzen kann.»

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