Katrin Bärtschi ist Briefträgerin in Bern und Gewerkschafterin.
Herr S. sei gestorben. Die Briefträgerin erfährt es von einem Kollegen und merkt überrascht, dass sie dem alten Mann nachtrauert. Seiner Freundlichkeit und Aufmerksamkeit. Trotz dem SVP-Heftli, das sie ihm regelmässig bringen musste, trotz seinen faulen Sprüchen über die Frauen. Sprüche, die nie anzüglich waren, eher Ausdruck anhaltender Verwunderung über das andere Geschlecht. Der Kollege sagte, er habe es von der Nachbarin erfahren. Diese habe weiter gewusst, dass Herr S. keine Angehörigen habe. In solchen Situationen füllt sich manchmal der Briefkasten, bis die Wohnung geräumt ist. Erst einige Tage nachdem der Name vom Kasten verschwunden ist, wird er im Adressmanagement der Post als inaktiv erfasst, und die Post wird retourniert. Manchmal erteilt eine Behörde einen befristeten Nachsendeauftrag. Was mit der Post von Herrn S. geschieht, weiss die Briefträgerin nicht. Sie ist nicht mehr auf der Tour, die seine ehemalige Wohnung bedient. Aber sie sprach mit P., einem andern Quartieroriginal. «Mister Spock ist tot?» fragte P. «Wir nannten ihn so, wegen der Form seiner Ohren.» Die Briefträgerin fragt sich schmunzelnd, ob Herr S. diesen Übernamen wohl kannte. Sie erfährt noch dies und das, P. ist ein freigebiger Erzähler.
Ob es den Leuten bewusst ist, dass es jemanden gibt, der oder die einiges über ihr Leben weiss?
POSTGEHEIMNIS. Was sie selber weiss, behält die Briefträgerin für sich. Postgeheimnis. Sie denkt an die Briefe, die Herr S. anscheinend in alle Welt verschickt hat. Manche kamen zurück mit dem Vermerk «address unknown». Es waren Briefe an Prominente dabei. Was wohl in ihnen stand? Die Briefträgerin spürt eine kleine Reue. Eigentlich hätte sie gern mehr über Herrn S. gewusst. Er hätte bestimmt Auskunft gegeben, gesprächig wie er war. Nun ist es für alle Fragen zu spät.
Ob es den Leuten bewusst ist, dass es jemanden gibt, der oder die einiges über ihr Leben weiss? Und vielleicht Anteil nimmt. Sich freut, wenn Hände voll Geburtstagspost gebracht werden können, mitfühlt, wenn Todesanzeigen oder Kondolenzschreiben deponiert werden müssen. Jemand, die oder der sich auch dann noch erinnert, wenn ein Name vom Kasten verschwunden ist. Eines Morgens trägt der verwaiste Briefkasten dann eine neue Aufschrift, und eine andere Geschichte beginnt.
Und die Briefträgerin? Ist sie sich bewusst, dass vielleicht auch sie beobachtet wird? Dass ihre Selbstgespräche am Kasten, ihre gelegentlichen Flüche, ihr Singen und Pfeifen an unbeschwerten Tagen gehört und wahrgenommen werden? Dass Leute, mit denen sie nie sprach, merken, wenn sie nicht mehr da ist. Weil sie reorganisiert wurde, weil sie weggezügelt ist oder weil sie starb? Sehen und gesehen werden …
Vor ein paar Jahren konnte ich noch regelmässig mit dem Pöstler einen kurzen Schwatz abhalten. Jetzt sind sie genauso gehetzt bei der Arbeit wie ich und die Touren wechseln schnell. Schade – ein weiteres Stück Identität weg.