Jean Ziegler
Es war der Freitagnachmittag, 15. März 2019. In Dutzenden von Ländern auf der ganzen Welt demonstrierten Millionen Menschen für ein Erwachen ihrer Regierungen und für eine energische Politik zum Schutz des bedrohten Klimas. In Genf zählte die «Tribune de Genève» beinahe 10’000 Demonstrantinnen und Demonstranten. Und das Wichtigste: Über 90 Prozent derjenigen, die da mit Transparenten, Fahnen, Sprechchören, Trompeten und Trommeln durch die Innenstadt pilgerten, waren Schüler, Lehrlinge und Studentinnen.
Die Genfer Staatsrätin Anne Torracinta, Sozialistin und Erziehungsdirektorin, hatte einen vernünftigen Beschluss gefasst: Wer den Lehrerinnen und Lehrern einen Brief schrieb, war an diesem Tag von der Schule befreit.
Aufstehen und protestieren, ein
Bewusstsein über die Erderwärmung schaffen – und auf ein Wunder warten.
DIE SPONTANEITÄT DER JUNGEN. Kein Umzug zum 1. Mai und – seit dem Vietnamkrieg – keine politische Manifestation hatte die Stadt so fröhlich, erfindungsreich und hoffnungsvoll zum Leben erweckt wie die Mobilisation vom 15. März. Ich stand am Strassenrand und war glücklich.
Die Spontaneität der Jungen produzierte wundersame Früchte. Der Betonbunker der Credit Suisse steht an der Place de Cornavin. Unter allen internationalen Grossbanken investiert die Credit Suisse am massivsten in die Produktion fossiler Energie. Vor dem Bunker stoppte der Umzug. Eine junge Gymnasiastin verlas per Megaphon die Losung: «Noyez les banquiers, pas la banquise», «Ersäuft die Banker, aber nicht das Packeis». Tosender Applaus.
Der weltweite katastrophale CO2-Ausstoss betrug im letzten Jahr 45 Milliarden Tonnen. Daran der Schweizer Anteil: 50 Millionen Tonnen Innen- und 60 Millionen Tonnen Aussenproduktion (also diejenige CO2-Menge, die anfiel, um all unsere Importe herzustellen).
Im Dezember 2015 haben in Paris 190 Staaten ein Klimaabkommen unterschrieben. Darin verpflichten sie sich, ihren jeweiligen CO2-Ausstoss bis 2030 um 50 Prozent zu verringern (Richtwert ist 1990). Das unbedingte Fernziel ist 2100. Bis zur Jahrhundertwende darf die Erderwärmung nur um 1,5 Grad ansteigen. Gelingt dies nicht, werden Millionen Quadratkilometer landwirtschaftlicher Nutzfläche verdorren, und die Ozeane steigen um drei bis sechs Meter. Millionen Menschen müssen dann vor Dürre oder Überschwemmungen flüchten. Grosse Küstenstädte gehen teilweise oder ganz unter. Von Tiefländern wie Bangladesh gar nicht zu reden.
AUF DEM WEG IN DIE KATASTROPHE. Glaubt man der Uno-Behörde, die das Abkommen von Paris überwacht, sind wir bis anhin auf dem besten Weg in die Katastrophe. Wenn weiter so gewirtschaftet wird wie 2018, dann steht bis zur Jahrhundertwende eine Klimaerwärmung von drei bis fünf Grad bevor.
Was tun? Genau das, was die Genfer Schülerinnen und Schüler und Millionen ihrer Kolleginnen und Kollegen auf der ganzen Welt am 15. März gemacht haben: aufstehen, protestieren, Bewusstsein schaffen … und auf ein Wunder warten.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein jüngstes in Deutsch erschienenes Buch heisst: «Was ist so schlimm am Kapitalismus? Antworten auf die Fragen meiner Enkelin».