Er ist das historische Gedächtnis der Gewerkschaften: Beat Schaffer, gelernter Schriftsetzer, Marxist, Gewerkschaftstexte-Sammler und Leiter der Rentnergruppe der Unia Biel.
GEDÄCHTNIS DER GEWERKSCAHFT: Beat Schaffer (77) hat 43’000 gewerkschaftliche Texte
digitalisiert und archiviert. Und täglich werden es mehr. (Fotos Anita Vozza)
Wo anfangen bei diesem Leben, das genügend Stoff für einen Roman bieten würde? Vielleicht beim Wunsch des kleinen Buben, vom Lehrer auch mal einen farbigen Einband für die Schulhefte zu bekommen. Er bekommt nie einen, irgendeinen Fehler macht er immer. Es war vielleicht seine erste Lektion in Sachen «Arm» und «Reich», «Oben» und «Unten». Trotzdem setzen sich seine Lehrer später für ihn ein, holen mit ihm in der neunten Klasse den Sekundarschulstoff nach, damit der aufgeweckte Bub eine Schriftsetzerlehre machen kann. Denn die Eltern haben kein Geld, um ihn in die kostenpflichtige Sekundarschule zu schicken. «Wir waren nicht armengenössig, aber Vater und Mutter mussten immer auf alle mögliche Art und Weise Geld verdienen», erzählt Beat Schaffer und taucht in die Vergangenheit ein. So arbeitete die Mutter mal als Putzfrau oder half beim Bahnwärter aus, der Vater durchforstete die Ghüder-Deponien nach verwertbaren Metallstücken, hielt Kaninchen, von denen er ab und zu eins schlachtete.
«Meine Mutter war mein grosses Vorbild. Sie ist immer für unsere Sache eingestanden», sagt der 77jährige mit Hochachtung in der Stimme. Die Mutter und Beats Götti, SP-Gemeindepräsident in Worben BE, versorgten den jungen Schaffer mit Lesestoff, der «Berner Tagwacht» etwa. Der Götti nahm ihn auch mit an die ersten gewerkschaftlichen Versammlungen. So wurde Beat Schaffer schon früh politisiert, er las das «Kommunistische Manifest» von Karl Marx und bald auch andere kommunistische Literatur, ging auf die Strasse, wenn es darum ging, für die Sache der Arbeiter einzustehen.
REVOLUTIONÄR. In der Lehre trommelte er die anderen Stifte zusammen, um in der Branchengewerkschaft Typographia Biel eine Lehrlingsgruppe zu gründen. Von da an war Schaffer aus der gewerkschaftlichen Szene nicht mehr wegzudenken. Vielen ging das Engagement dieses «Revoluzzers» allerdings zu weit – er, der fast jedes Flugblatt der linken Szene geschrieben hatte und dessen Name als Herausgeber auf vielen Publikationen stand. Er war vom kleinen Büezersohn zur öffentlichen Figur geworden – von vielen bewundert, von anderen gehasst und verteufelt. «Ich wurde mit allen linken Terroristen in einen Topf geworfen, mit der RAF, den Roten Brigaden. Dabei kannte ich keinen von denen», sagt er – und während er so spricht, scheint es fast, als wundere er sich noch heute über den Unfug und den Überwachungswahn, den die Bundesanwaltschaft damals trieb.
JÄGER UND SAMMLER: Beat Schaffer sucht alte und neue Gewerkschaftsdokumente und bereitet sie für die Nachwelt auf.
Im Zuge der 1968er Bewegung begehrt in Biel die Jugend auf, will ein autonomes Jugendzentrum im Gaskessel aufbauen. Im Stadtrat haben sie SP-Fürsprecher, darunter auch den ehemaligen Spanienkämpfer Ernst Stauffer. Trotzdem zögern und zaudern die Stadtbehörden, fordern «Strukturen» und «offizielle Ansprechpersonen». Schliesslich beschliesst Beat Schaffer zwei Sit-ins. Zuerst besetzt er zusammen mit Gymnasiasten und anderen jungen Leuten die Redaktion des «Bieler Tagblatts»; eine Woche später platzt die Gruppe in eine Sitzung des Gemeinderats und verkündet, nicht abzuziehen, bis die Stadt bereit sei, die Renovationskosten für den «Chessu» zu übernehmen. Der Rest ist Geschichte: Biel hat bis heute ein autonomes Jugendzentrum.
ARCHIVAR. Mit kariertem Hemd, Jeans und Wollsocken sitzt Schaffer an seinem Wohnzimmertisch in Biel und erzählt in kernigen Worten Anekdote um Anekdote aus seinem bewegten Leben. Gelungene Aktionen, aber auch missglückte Schildbürgerstreiche sind darunter. Wie damals, als er vor dem Schützenfest in Biel mit Gleichgesinnten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion das Schützenhaus mit Parolen gegen den Vietnamkrieg dekorierte. «Als wir am Morgen zum Fest gingen, trauten wir unseren Augen kaum: Das Schützenhaus war schneeweiss – keine Spur von unseren Plakaten. Ich weiss bis heute nicht, wie sie das geschafft haben», sagt er lachend.
In den frühen 1970er Jahren gründete er mit einigen Freunden eine sozialistische Buchhandlung. In dieser Zeit begann er mit dem Aufbau eines Archivs über die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung: Versammlungsprotokolle, Flugblätter, Plakate, Publikationen, Fotos, Zeitungsausschnitte – bis ins Jahr 1995, als er einen Teil des Archivs der WOZ, der «Berner Tagwacht», dem Sozialarchiv oder dem Smuv überliess. Gleichzeitig fing er an, alles zu digitalisieren. Noch immer ist ein zimmerhohes Regal seines Büros mit Ordnern gefüllt. Manches musste er vor dem Reisswolf retten. Noch heute verbringt Schaffer sechs Stunden täglich am Computer, um alte Texte zu digitalisieren und aktuelle Publikationen im Internet zu durchforsten, 43’000 vollständige Texte sind es bis jetzt, (www.textverzeichnisse.ch), täglich kommen neue dazu. Warum tut er sich das an? Noch dazu ehrenamtlich und unbezahlt? «Die heutige Geschichtsschreibung ist die der Bürgerlichen und Herrschenden», sagt er. «Ich will die andere Seite zeigen, die Seite derjenigen, die den Wohlstand erst ermöglichen.»
Und wenn er an dieser seiner Mission arbeitet, steht er quasi unter ständiger, aber wohlwollender Beobachtung: An der Wand hängt ein grosses Bild von Karl Marx, der fast gütig hinter seinem Rauschebart auf Beat Schaffer blickt. Diesen unermüdlichen Schaffer, der von sich sagt: «Ich habe immer versucht, Marxist zu sein.»
Beat Schaffer Immer aktiv
«Nicht jeder Aussenseiter ist ein Bombenleger», übertitelte die «National-Zeitung» einst einen Artikel über Beat Schaffer. Ein Bombenleger, nein, das ist Beat Schaffer nicht. Aber auch keiner, der die Faust im Sack macht. Er war unermüdlich auf der Strasse, bei Demonstrationen, Unterschriftensammlungen, Flugblattaktionen. Er war praktisch sein ganzes Leben lang gewerkschaftlich engagiert, nebst der Unia auch beim VPOD und beim GBLS (Gewerkschaftsbund Biel-Lyss-Seeland), wo er seit 1995 Protokollführer ist.
DICKE FICHE. Beat Schaffer ist mit einer acht Jahre jüngeren Schwester in Worben BE aufgewachsen. Sein Engagement kostete ihn mehr als einmal seinen Job und führte zu einer dicken Fiche bei den Staatsbehörden. Früher ging Schaffer «leidenschaftlich gerne» wandern, seit einer Hüftoperation fällt ihm das Gehen schwer. Dafür macht er heute mit seiner Frau Kathrin Asal öfter Ausflüge mit Bahn oder Schiff, besucht Konzerte und Ausstellungen und macht Städtereisen – Berlin, Dresden, Trier («auf den Spuren von Marx»), Aachen. Als nächstes steht wieder mal Hamburg auf dem Programm: Dort will er auch «Wirtschaftskunde» betreiben, wie er augenzwinkernd sagt.
Ich gestatte mir, einen elementaren Zusatz anzubringen:
Während meinem ganzen Leben habe ich gesagt, geschrieben und getan, wozu ich in der Lage war. Mehr lag nicht drin (leider).
Mit kollegialen Grüssen
Beat Schaffer