(Häusliche) Gewalt gegen Frauen:
Das muss sich ändern!

Belästigung, Vergewaltigung, Mord: Die Opfer sexueller ­Gewalt sind mehrheitlich Frauen und Mädchen. Erstmals zeigen neue Zahlen das Ausmass des ­männlichen Terrors.

HORROR: Im Schnitt stirbt in der Schweiz alle zwei Wochen eine Frau oder ein Mädchen durch häusliche Gewalt. (Foto: iStock)

Herzogenbuchsee BE, Ende Mai: Ein 78jähriger gibt in seiner Wohnung mehrere Schüsse ab und verletzt dabei seine Frau schwer. Die Rega fliegt sie ins Spital, wo sie auf der Intensivstation behandelt wird. Laut den Nachbarn sei der Mann in den letzten Mo­naten immer wieder ausgerastet und gegenüber seiner Frau laut geworden. Er habe eine «stattliche» Waffensammlung, so der «Blick».

Sechs Tage später wird eine 25jährige Frau in La Sarraz VD mit einem Messer schwer am Hals verletzt. In der Wohnung findet die Polizei auch ihren Partner – tot. Das Paar habe eine schwierige Zeit durchlebt, erklärt die Presse: Die Frau habe um eine Auszeit gebeten.

Am gleichen Tag tötet ein 60jähriger Schweizer in Zürich seine Ex-Partnerin und ihre Freundin. Danach erschiesst er sich. Schon Wochen vor der Tat hatte die Ex-Freundin bei der Polizei Anzeige gegen den Mann eingereicht. Er habe sie bedroht und ge­nötigt.

«Das muss die Schweiz leisten, wenn sie es ernst meint.»

ENDLICH ZAHLEN!

Im Schnitt stirbt in der Schweiz alle zwei Wochen eine Frau oder ein Mädchen durch häusliche Gewalt. Dazu kommen pro Woche fast hundert Tätlichkeiten und vier Vergewaltigungen. Das alles nur im Rahmen der häus­lichen Gewalt, also wenn Täter und Opfer in einer Beziehung sind oder ­waren. Darüber hinaus gibt es wenig offizielle Zahlen zur Gewalt an Frauen.

Etwas Licht ins Dunkel brachte kürzlich eine Studie von Amnesty International. Die repräsentative Umfrage unter 4500 Frauen zeigt ein erschreckendes Bild: 59 Prozent der Frauen haben schon sexuelle Belästigung erlebt, meist auf der Strasse oder im öffentlichen Verkehr. 22 Prozent ­haben schon ungewollte sexuelle Handlungen erleben müssen, und 12 Prozent der Frauen erlebten schon Geschlechtsverkehr gegen den eigenen Willen. Hochgerechnet auf die Bevölkerung der Schweiz, waren also 430’000 Frauen Geschlechtsverkehr ausgesetzt, der ihnen aufgezwungen wurde.

PRÄVENTION: DAS BRAUCHT ES

Immerhin hat die offizielle Schweiz 2017 einen ersten Schritt getan, um gegen diesen Wahnsinn anzukämpfen: sie unterzeichnete das Übereinkommen des Europarats gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt, die sogenannte Istanbul-Konvention. Jetzt müssen Bund, Kantone und ­Gemeinden diese umsetzen. Damit dies auch passiert, haben sich gut 60 Organisationen zusammengeschlossen und wollen den Behörden auf die Finger schauen (istanbulkonvention.ch). Sie haben unter anderem folgende konkreten Forderungen aufgestellt:

  • Eine professionelle Beratung, die rund um die Uhr allen zugänglich ist. Wie das geht, zeigt Deutschland seit 2013: Das «Hilfetelefon» bietet Beratung in 17 Sprachen an, auch per Mail oder Onlinechat sowie in Gebärdensprache. Kostenlos.
  • Sexualbildung in allen Kantonen gemäss den Standards der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Damit Kinder schon früh lernen, dass ein Nein ein Nein ist. Simone Eggler von der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes sagt: «Sexualbildung ist zen­tral für die Gewaltprävention.»
  • Präventionskampagnen des Bundes gegen Gewalt an Frauen, wie er dies zur Unfallverhütung oder gegen Aids macht.
  • Eine Reform des Sexualstrafrechts, die jede sexuelle Handlung ohne Einverständnis unter Strafe stellt. Amnesty International hat dazu eine Petition an Justizministerin Karin Keller-Sutter lanciert: stopp-sexuelle-gewalt.amnesty.ch
  • Kein Druck auf Opfer sexueller Gewalt, gleich eine Anzeige zu erstatten. Simone Eggler: «Was eine Frau in einer solchen Situation braucht, ist Soforthilfe und das Sichern von DNA-Spuren.» Ob sie Anzeige erstatte, solle sie in aller Ruhe später entscheiden. Während das im Kanton Bern schon seit 30 Jahren gut funktioniere, gebe es in anderen Kantonen immer wieder Ärztinnen und Ärzte, die Frauen unter Druck setzten.

Alle diese Punkte sind auch in der Istanbul-Konvention vorgesehen. Die Schweiz hat sich also dazu verpflichtet, sie umzusetzen. Für Simone Eggler ist klar, dass das etwas kosten wird. Aber sie sagt: «Das muss die Schweiz leisten, wenn sie es ernst meint mit der Gewaltprävention.»


Jedes vierte Opfer findet keinen PlatzFrauenhäuser: Chronisch unterfinanziert

Zu wenig Plätze, zu wenig Geld: Bringt die Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen nun Besserung?

UNGENÜGEND: In der Schweiz ist der Schutz von Frauen und Mädchen, die Opfer von Gewalt wurden, nicht garantiert. (Foto: iStock)

19 Frauenhäuser gibt es in der Schweiz. Was nach viel klingt, ist viel zu wenig: Immer wieder müssen die Häuser Frauen abweisen, weil sie keinen Platz haben. Letztes Jahr war das bei 478 Frauen der Fall, wie die aktuellen Zahlen der Dachorganisation der Frauenhäuser zeigen. Jede vierte Frau, die Schutz suchte, wurde abgewiesen.

Einige der Frauen kamen in einem anderen Frauenhaus unter. Die Mehrheit der abgewiesenen Frauen aber bekam nur einen Platz in einer Notwohnung der Gemeinde oder in einer Pension, wo es kaum fachliche Betreuung und gar keine Schutzmassnahmen gibt. Denn nur bei den Frauenhäusern ist die Adresse geheim. Das Problem: Die Frauenhäuser sind chronisch unterfinanziert. Nur gerade ein Haus wurde 2018 komplett durch den Kanton getragen. Viele werden von der öffentlichen Hand nur pro Fall finanziert – zu Tarifen, die für einen professionellen 24-Stunden-Betrieb bei weitem nicht ausreichen. Sie können nur dank vielen privaten Spenden überhaupt überleben.

Das Mädchenhaus Biel musste schliessen.

WIEDER ZU. Noch schlechter steht es um den Schutz von minderjährigen Gewalt­opfern. In der Schweiz gibt es nur gerade ein Mädchenhaus (siehe Kasten rechts). Ein in der Startphase durch Crowdfunding finanziertes Projekt in Biel, das auch für Betroffene aus der Westschweiz offenstand, musste diesen Januar nach nur acht Monaten wieder schliessen, weil die Politik sich nicht bewegte.

Einen perfiden Angriff auf die Frauenhäuser startete 2011 eine Gruppe von Männern um René Kuhn, Frauenhasser vom Dienst und Ex-SVPler. Sie drohte damit, die Adressen aller Häuser zu veröffentlichen. Rachsüchtige Ehemänner oder Ex-Freunde hätten dann den Frauen auflauern können. Doch die Frauenhaus-Dachorganisation reagierte prompt und reichte Strafanzeige ein. Darauf verbot ein Richter die Veröffentlichung.

UND JETZT? Neu verpflichtet die Istanbul-Konvention (siehe Text oben) die Schweiz, genügend Schutzplätze für Frauen und Kinder anzubieten und diese auch zu finanzieren. Die Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren will jetzt Empfehlungen ausarbeiten, um die Finanzierung der Häuser zu verbessern.

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.