Jean Ziegler
Das Gebirgsmassiv in Hochsavoyen, genannt Les Glières, ist durchzogen von tiefen Tälern und steinigen Hochebenen. Hier leistete eine kleine, todesmutige Schar von knapp 500 Widerstandskämpfern – Frauen, Männern, Jugendlichen, sogar Kindern – zwischen dem 21. Januar und dem 26. März 1944 aussichtslosen Widerstand gegen 12’000 Soldaten der deutschen Wehrmacht und der SS, unterstützt von den mörderischen Milizen des Vichy-Regimes. Nur wenige Patrioten überlebten die Kämpfe und die anschliessende Vergeltung durch die SS. Die meisten Opfer sind begraben im Dorf Thorens, am Fuss einer Felswand.
Jedes Jahr im Mai kommen in Thorens Tausende von Menschen zusammen, um der Märtyrer der Freiheit zu gedenken. Jedes Jahr wird ein Redner eingeladen, dessen Wirken von den Grundgedanken des Programms des «Nationalen Rates des Widerstands» vom 15. März 1944 inspiriert wird. Durch Zufall fiel im letzten Mai die Einladung an mich.
«Zwischen dem Rechtsstaat und der Willkür der Gewalt ist die Grenze brüchig.»
ABSCHRECKUNG. Nach meiner Rede sprach mich ein hochgewachsener junger Mann mit schwarzem Haar, lebendigen Gesten und regennasser Kleidung an. Über seinem linken Auge trug er eine schwarze Binde. Der junge Mann hiess Patrick Philippe. Er ist Sprecher für das Kollektiv der «Mutilés pour l’exemple». Also der zur Abschreckung Verstümmelten.
Seit Beginn der Demonstrationen der Gelbwesten im November letzten Jahres sind
15 Demonstranten getötet und 278 schwer verletzt worden: abgerissene Hände, ausgeschossene Augen.
Frankreich kennt eine effiziente Institution: die «Inspection générale de la Police nationale». Diese nationale Disziplinarbehörde soll das rechtskonforme Verhalten der Polizei kontrollieren. Bei ihr gingen bis zum letzten Mai 579 Klagen ein, 265 Untersuchungen wurden eröffnet, und 105 Fälle wurden an die Staatsanwaltschaft zur strafrechtlichen Verfolgung weitergeleitet. Aber kein einziger Polizist, keine einzige Polizistin wurde bisher angeklagt.
Schreckliche Waffen, die die französische Polizei ganz legal gegen Demonstrantinnen und Demonstranten einsetzt, sind zu allererst die LBD, «Gewehre mit defensiver Munition». Defensiv sollen die Gummigeschosse mit einem Stahlkern sein, die aus nächster Nähe und meist auf die Köpfe der Demonstranten geschossen werden. Die vielen abgerissenen Hände kommen daher, dass die Opfer instinktiv ihre Augen mit erhobenen Händen zu schützen versuchen.
Der grosse Philosoph Michel Serres, der Anfang dieses Monats im Alter von 88 Jahren verstarb, schreibt: «Zwischen dem Rechtsstaat und der Willkür der Gewalt ist die Grenze brüchig.»
SCHWEIZER EXPORT. Die LBD-Verstümmelungswaffen werden in Thun fabriziert und mit dem Segen des Bundesrates nach Paris verkauft. Der Bundesrat sollte sofort diesen Export verbieten. Dazu wurde eine Motion im Parlament eingereicht. Der arrogante französische Präsident Emmanuel Macron muss gezwungen werden, auf die legitime Kritik der Gelbwesten mit Dialog und Reformen statt mit Verstümmelung zu antworten.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein jüngstes in Deutsch erschienenes Buch heisst: «Was ist so schlimm am Kapitalismus? Antworten auf die Fragen meiner Enkelin».