Hehlerei fürs ImperiumHeidiland & die Kolonien
Die Schweiz hatte nie Kolonien. Woher kommt dann unser Wohlstand? Von den Kolonien. Wie jetzt?
Der Streit um eine Pariser Ausstellung und ein neues Buch enthüllt: Europa hat die koloniale Eroberung der Welt als Beherrschung der Körper, als rassistische Massenvergewaltigung organisiert.
Es geschah vor ein paar Jahren an einem Bankett des Pariser Ministeriums, das französische Kultur verbreiten soll. Beim Käse sagt ein preisgekrönter französischer Schriftsteller zur algerischen Romanautorin: «Ich möchte endlich eine Araberin fi…!» Die Algerierin, die in Paris lebt und auf französisch schreibt, erfasst blankes Entsetzen. Ihre Mutter war als 14jährige vor den brutalen Nachstellungen eines französischen Kolonialoffiziers in den bewaffneten Widerstand geflüchtet. Als die Franzosen 1962 endlich aus Algerien abzogen, hatte ihr Kolonialkrieg in Nordafrika 700’000 Menschen getötet. Und Millionen traumatisiert.
Soviel wir wissen, hat niemand den Preisgekrönten für seinen rassistischen, frauenverachtenden und kolonialistischen Satz zumindest geschüttelt. Solche Rede – und Schlimmeres – ist in Paris durchaus salonfähig. Frankreich hat seine koloniale Vergangenheit nie richtig aufgearbeitet. Also mottet sie weiter.
«Sexuelle Ausbeutung stand im Zentrum der
Kolonialisierung.»
Über ein halbes Jahrtausend hat der weisse Mann die Welt bis in die hintersten Ecken mit Eroberung und Ausbeutung, Sklaverei und Rassismus überzogen. Auf dem Kolonialismus baut das Weltsystem Kapitalismus. Von den Conquistadores Südamerikas bis zu den US-Soldaten in Bagdad und Kabul ist die koloniale Unterwerfung das grösste Verbrechen der Menschheitsgeschichte: Es hat die aktuelle Welt geformt.
Heute heisst er «finanzielle Globalisierung», G 20, Herrschaft der Konzerne. Denn das Geld fliesst netto noch immer von den Ländern des Südens in den Norden. Auch die alten Methoden gelten weiterhin. Westliche Truppen führen derzeit Kriege in zwei Dutzend Ländern des Südens. Und wünscht sich jetzt ein irakisches Mädchen in der Ruine seines Hauses eine «Dreamhouse-Barbie», hat das mit den immensen Militärbudgets der USA einen engen Zusammenhang: Kommen die Kampfbomber, werden Köpfe und Seelen mitkolonialisiert.
Bereicherung war und ist der Antrieb der globalen Unterwerfung. Rassismus ihre Ideologie. Wer ganze Bevölkerungen massakriert und blühende Kulturen auslöscht, wer Millionen Menschen zur Sklavenarbeit in die beiden Amerikas verfrachtet, muss den Gequälten ihre Qualität als Menschen nehmen. Dafür wurde der «Wilde» erfunden, und das wirkt bis heute nach. Die Kirche sprach ihnen erst eine Seele ab, später wütete sie im Namen der Rettung ihrer Seelen. Spanische Juristen erklärten die Dominierten zu «beweglichem Besitz» wie Möbel.
Rassen gibt es definitiv nicht, an ihrem Nachweis sind alle Apartheid-Regimes und auch die Nazis gescheitert. Aber unser aller gemeinsamer Ursprung in Afrika hindert Ideologen nicht daran, die Besitzlosen und «Globalisierungsverlierer» mit rassistischen Motiven gegeneinander aufzuhetzen. Der neueste Rassismus, der von Parteien wie der SVP bis weit ins bürgerliche Lager gepflegt wird, ist kulturell. Er behauptet die Minderwertigkeit des Islams, schwafelt von christlicher Identität und jammert über die angebliche Verdrängung des weissen Mannes durch Migranten aus dem Süden. Das Gift wirkt. Immer mehr Länder werden von Rassisten wie Donald Trump, Jair Bolsonaro oder Matteo Salvini regiert. Längst macht der rechtsextreme Terror in Europa mehr Opfer als al-Kaida und IS zusammen. Und Nationen wie Frankreich drohen an der neuen braunen Pest zu zerbrechen.
Dass die Ideologie von der weissen Überlegenheit dumpf und stark sexualisiert daherkommt, sollte nicht wundern. Der Kolonialismus wurde nicht nur als Herrschaft über Boden und Schätze, sondern als Dominanz über die Körper organisiert. Über die Arbeitskraft sowieso. Und schon in der ersten Woche nach der Besetzung Algiers im Sommer 1830 richtete die französische Kolonialverwaltung Bordelle mit algerischen Frauen für die französischen Soldaten ein.
Nicht nur in Algerien, in ganz Afrika, in Indochina, im britischen Indien, in Indonesien, in Südamerika, in den nordamerikanischen Sklavenplantagen wurde die dunkle Frau (manchmal auch der Mann) als Beute versprochen. Freiwild für Männer, die aus dem Korsett enger Moralvorstellungen kamen. Das hinterliess tiefe Spuren und Verhaltensmuster.
Sexuelle Gewalt als Herrschaftsform des weissen Mannes (bis hin zum sexuellen Tourismus) haben Autorinnen wie Angela Davis, Tarana Burke, Fatima Mernissi, Ann Laura Stoler und andere in grundlegenden Texten analysiert. Nun wagt der französische Historiker Pascal Blanchard eine harte These: «Die Kolonialisierung war eine grosse sexuelle Safari.»
Die Formulierung ist reisserisch, aber Blanchard sagt das nicht leichthin. Er ist der Kopf einer Gruppe von Forscherinnen und Forschern (achac.com), die seit zwei Jahrzehnten den Kolonialismus, postkoloniale Abhängigkeiten, die Migration ergründet. Von ihnen stammt ein Dutzend wichtiger Bücher zur Thematik.
Kolonialismus wurde nicht nur als Herrschaft über Boden und Schätze, sondern als Dominanz über die Körper organisiert.
Diesmal hatten sie sich das Bild der kolonialisierten Frau vorgenommen. Aus 500 Sammlungen sichteten sie 70’000 Fotografien, Zeichnungen, Gemälde, Plakate. Überrascht stellten sie fest, wie systematisch und massenhaft die Bilder teilweise oder ganz entkleideter Frauen aus den Kolonien als Waffe zur Mobilisierung für die Eroberungszüge und die Kontrolle des Imperiums eingesetzt wurden.
Bilder wie die auf diesen Seiten abgedruckte Zeichnung einer Marktszene (grosses Bild) wurden millionenfach unter die Leute gebracht. Man nannte das Phänomen «French Postcard». Historiker Blanchard: «Niemand hätte sich vorgestellt, wie sehr die Kolonialstaaten etwa die Prostitution geplant, organisiert und mediatisiert haben. Jene, die denken, die sexuelle Ausbeutung sei ein Randphänomen des Kolonialsystems gewesen, täuschen sich: Sie stand im Zentrum der Kolonialisierung.»
Aus den Ergebnissen ihrer Arbeit machte das Achac-Team eine Ausstellung. Sie mobilisierten 97 Wissenschafterinnen und Wissenschafter, darunter etliche afrikanische Autorinnen, um alle Aspekte des Themas auszuleuchten, und banden deren Texte mit 1200 Bildern zu einem fast 5 Kilo schweren Band zusammen. Er deckt alle Kolonialreiche und die Sklaverei seit dem Jahr 1500 ab.
Die Bilder auf dieser Doppelseite stammen aus dem Buch. Es enthält auch eine gewisse Zahl härterer, aber offenbar zurückhaltend ausgewählter Bilder. Ihre Botschaft ist ohnehin schon unerträglich und doppelt. In der Kolonie, so signalisieren sie, warten exotische «natürliche» Frauen darauf, vom fremden Soldaten befreit und benutzt zu werden. Und: In der Kolonie ist, schuldfrei, alles erlaubt. Missbrauch, Vergewaltigung, Pädophilie.
Besonders verstörend ist, dass die Kolonialisten häufig Bilder nach Hause schickten, die sie bei Übergriffen auf Frauen zeigen. Im beginnenden 20. Jahrhundert schmückten Bilder von Massakern schon auch mal Schokoladetafeln oder Produktewerbung.
Das Buch löste sofort Kontroversen aus. Rechte Polemiker stritten schlicht die Fakten ab und feierten die «zivilisatorische Leistung» Frankreichs in den Kolonien. Kritische Journalisten warfen Pascal Blanchard einen «voyeuristischen Coup» vor. Die härteste Kritik kam von einer Gruppe «Afrofeministinnen» (Selbstbezeichnung). In einem Manifest (cases-rebelles.org) schrieben sie, die Publikation verletze nicht nur das Recht am Bild der Gedemütigten, es sei auch ein Angriff auf die Würde aller Frauen. Und: «Die Gewalt zu zeigen verhindert in keiner Form ihre Wiederholung.» Insgesamt sei der Band Teil eines «konstanten Stroms von rassistischen, symbolischen oder konkreten Attacken».
Christelle Taraud, Mitherausgeberin des Bandes, antwortete, wer den Rassismus wirksam bekämpfen wolle, müsse das Tatwerkzeug schon zeigen.
Immerhin erhellt die Debatte so viel: Kolonialismus, Rassismus und sexualisierte Gewalt sind keine afrikanischen Themen, sondern unsere gemeinsame Geschichte.
Pascal Blanchard, Nicolas Bancel, Gilles Boetsch, Dominic Thomas, Christelle Taraud (Hg.): Sexe, Race et Colonies. La Découverte, Paris. 544 Seiten, CHF 106.10
„Die britischen Kolonialoffiziere in Indien markierten gerne martialische Männlichkeit“ steht unter dem Bild „Kriegerplaisier“. Aufständische seien mit der Kanone, nicht mit dem Gewehr erschossen worden. Und dann folgt eine Einräumung: „Doch zwischen dem weissen Raj und seinem Boy kam es häufig zu abhängiger Intimität.“
Das wohl eingefleischteste Vorurteil abermillioner Heterosexueller auf der Welt besagt, die Homosexuellen seien weiblich und weichlich. Das ist im kleinen Wörtchen „doch“ mustergültig ausgedrückt.