Jean Ziegler
Dienstag, 23. Juni, im Konferenzsaal XI des Genfer Völkerbundpalasts: ein Tag der Niederlage für die Vereinten Nationen. Die höchsten Verantwortlichen all jener Spezialorganisationen, die mit dem weltweiten Kampf gegen den Hunger betraut sind, mussten sich vor den Botschafterinnen und Botschaftern und Vertretern der internationalen Zivilgesellschaft rechtfertigen. Denn die Zahl der Hungernden steigt. Und dies auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt.
Im holzgetäfelten, klimatisierten Konferenzsaal stellten die Direktorinnen und Direktoren der FAO (der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation), der WHO (der Weltgesundheitsorganisation), der Unicef (des Kinderhilfswerks), des WFP (des Welternährungsprogramms) und der FIDA (der Internationalen Föderation für die Entwicklung der Landwirtschaft) ihren kiloschweren Jahresbericht vor. Sein Titel: «Die Lage der Ernährungssicherheit auf der Welt».
Was uns von den Opfern trennt, ist nur der Zufall der Geburt.
820 MILLIONEN OPFER. In der Uno-Entwicklungsagenda 2030 heisst es in Artikel 1: «Den Hunger beseitigen». Aber heute leiden immer noch 820 Millionen Menschen an permanenter, schwerster Unterernährung. Im subsaharischen Afrika, das grossartige, uralte Bauernkulturen und Millionen Hektaren fruchtbaren Bodens besitzt, leidet über ein Fünftel der Bevölkerung an todbringenden Mangelkrankheiten oder Unterernährung. Mangelernährung bedeutet, dass den Menschen Vitamine und mineralische Nährstoffe fehlen. Unterernährte nehmen zu wenig Kalorien zu sich.
Hunger ist ein einfaches Phänomen: Der Mensch arbeitet, spielt, redet, denkt, durchmisst Räume und verbraucht dabei Lebensenergie. Sie muss regelmässig durch flüssige oder feste Nahrung ersetzt werden. In Uganda stieg in drei Jahren die Zahl der Hungernden von 24 auf 44 Prozent. In Sambia, dem zweitgrössten Kupferproduzenten der Welt, hungern 46 Prozent der Bevölkerung. In Nigeria, diesem überreichen Riesenland, hat sich die Zahl der Hungernden verdoppelt.
WARUM DIESER SCHRECKEN? Klimakatastrophen und jahrzehntelange Kriege sind offensichtliche Gründe. Aber verheerend sind auch die Folgen des Landraubs: 2018 sind 41 Millionen Hektaren afrikanischen Agrarlandes von Hedge-Funds und internationalen Grossbanken vereinnahmt worden. Hinzu kommen erdrückende Auslandsschulden und Börsenspekulationen mit Grundnahrungsmitteln. Sie treiben die Weltmarktpreise in die Höhe, so dass die von Importen abhängigen Entwicklungsländer nicht mehr genügend Nahrungsmittel kaufen können.
Fazit: Hunger ist von Menschen gemacht und könnte morgen durch einige radikale Reformen aus der Welt geschafft werden. Notwendig wären ein Verbot von Börsenspekulationen mit Reis, Getreide und Mais; die totale Entschuldung der ärmsten Länder; das Verbot von Landraub. Für diese Reformen müssen wir kämpfen. Denn was uns von den Opfern trennt, ist nur der Zufall der Geburt.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein jüngstes in Deutsch erschienenes Buch heisst: «Was ist so schlimm am Kapitalismus? Antworten auf die Fragen meiner Enkelin».