Jean Ziegler
Jean-Jacques Rousseau beendete sein wohl wirkungsvollstes Werk, den «Gesellschaftsvertrag», im Spätherbst 1762. Die gnädigen Herren von Genf liessen das Buch Seite für Seite öffentlich vor dem Rathaus durchlöchern und dann verbrennen. Denn im «Gesellschaftsvertrag» steht der Satz, den alle Mächtigen hassen. Er heisst: «Zwischen dem Starken und dem Schwachen ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.»
DIE KONZERNINITIATIVE. Über 700 transkontinentale Rohstoff-, Agrar- und Finanzkonzerne gibt es in der Schweiz, dank horrenden Steuerprivilegien. Die meisten gehören ausländischen Kapitalisten. Eine breite Allianz zivilgesellschaftlicher und progressiver Organisationen will sie per Verfassungsinitiative zum Respekt der Menschenrechte und der Umwelt zwingen.
Die Konzerne, ihre Filialen im Ausland und ihre Zulieferer sollen einer Sorgfaltspflicht unterworfen werden. Wer Schaden anrichtet, wer Menschen vergiftet und tötet und die Umwelt zerstört, soll durch schweizerische Gerichte zu Schadenersatz an die Opfer verurteilt werden.
Die helvetischen Oligarchen schreien Zeter und Mordio. Aber der Rückhalt im Land für die Initiative ist stark. Der Nationalrat hat einen Gegenvorschlag erarbeitet, in dem immerhin noch die Sorgfaltspflicht und der schweizerische Gerichtsstand vorkommen.
Aber leider: Die Dachorganisation Economiesuisse und die Grossbanken haben folgsame Freundinnen und Freunde im Bundesrat. Beispiel: die Justizministerin Karin Keller-Sutter. Sie will einen bundesrätlichen Gegenvorschlag durchsetzen, der nur die total ineffiziente Verpflichtung zur Selbstkontrolle der Konzerne enthält.
«Zwischen dem Starken und dem
Schwachen ist es die Freiheit, die
unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.»
GOLDWÄSCHE. Der Rechtswissenschafter und Antikorruptionsexperte Marc Pieth hat soeben ein ausserordentlich kluges und eindrückliches Buch veröffentlicht: «Goldwäsche – die schmutzigen Geheimnisse des Goldhandels». 70 Prozent des weltweiten Goldhandels laufen über die Schweiz. Die Hälfte allen Rohgoldes wird von Schweizer Raffinerien zu Barren geschmolzen.
Zum Beispiel das Gold aus der riesigen Mine North Mara im Norden Tansanias, das von dem in Genf beheimateten Konzern MKS gehandelt wird. Darüber berichtete kürzlich Sylvain Besson von der investigativen Journalistengruppe der Tamedia. Danach vergiften die Minenbetreiber das Trinkwasser mit Arsen, das bei der Goldgewinnung verwendet wird. Die Bewohnerinnen und Bewohner der umgebenden Dörfer protestierten mehrfach. Milizen der Minen-Enklave gingen gegen sie vor und ermordeten in den letzten vier Jahren 22 Menschen.
Bei Marc Pieth ist weiteres Unheil nachzulesen, das in der Schweiz domizilierte Konzerne in der Goldbranche weltweit anrichten. Wer das liest, wird für die Initiative stimmen. Es geht um die Gesundheit, das Überleben von Hunderttausenden – und um die Ehre der Schweiz.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein jüngstes, in Deutsch erschienenes Buch heisst: «Was ist so schlimm am Kapitalismus? Antworten auf die Fragen meiner Enkelin».