Die nationalen Wahlen haben für Schweizer Verhältnisse tektonische Verschiebungen gebracht. Eine Analyse aus gewerkschaftlicher Sicht.
POSITIVE BILANZ: Aus gewerkschaftlicher Sicht wiegen die vielen grünen Sitzgewinne die SP-Verluste mehr als auf. (Foto: Keystone)
Der neue Nationalrat ist jünger, weiblicher, grüner und linker. Der Frauenanteil steigt von 32 auf 42 Prozent. Die Grünen gewinnen 17 Sitze dazu, was im wahrsten Sinne historisch ist, die SP verliert 4 Sitze. Die Grünliberalen gewinnen 9 Sitze, vor allem auf Kosten von FDP und BDP. Die CVP verliert 2 Sitze und fällt im Nationalrat hinter die Grünen zurück. Vor allem aber verlieren SVP und FDP zusammen 16 Sitze und damit ihre absolute Mehrheit im Nationalrat. Die drei Haupterkenntnisse:
Die Chance für eine Politik im Sinne der Lohnabhängigen …
1. DIE RECHTE IST DIE VERLIERERIN
Vor vier Jahren waren Rechts und Rechtsaussen die grossen Wahlsieger. SVP und FDP hatten im Nationalrat eine absolute Mehrheit. Und hängten ab dem ersten Tag der neuen Legislatur die Herren im Haus raus. Vor allem in den Kommissionen, in denen sie neu ebenfalls die Mehrheit stellen konnten. Der Linken blieb meistens nur der Versuch, das Schlimmste zu verhindern. Und das gelang ihr auch. Zum Beispiel bei der Unternehmenssteuerreform III, die schliesslich vom Volk abgelehnt wurde. Doch über alles gesehen, waren die vergangenen vier Jahre verlorene Jahre. Damit ist es jetzt zumindest umwelt- und gesellschaftspolitisch vorbei.
Interessant sind dabei einige Personalien. Bei der FDP abgewählt wurden Figuren wie Gewerbeverbandsdirektor Hans-Ulrich Bigler, der sich und seinen Verband als Seitenwagen der SVP positioniert hat. Und für einige der widerlichsten Abstimmungskampagnen der vergangenen Jahre verantwortlich war.
2. DIE MITTE IST RECHTER
Die GLP hat 9 Sitze gewonnen. Das ist prima fürs Klima, aber schlecht für die Lohnabhängigen. Denn die «rechten Grünen», wie sie unterdessen sogar die NZZ richtigerweise nennt, sind sozialpolitisch noch marktradikaler als SVP und FDP. Die Gewinne der GLP stammen nicht von der SP, wie einige Journalisten und Politgeographen herbeischreiben wollten, sondern von anderen rechten Parteien.
Sozialpolitisch wichtig ist, dass die CVP nicht in dem Mass abgestürzt ist, wie es teilweise erwartet wurde. Zwar ist sie nur mehr viertgrösste Partei hinter den Grünen, hat aber im Nationalrat nur zwei Sitze verloren und bleibt im Ständerat eine Macht. Damit wird sie weiterhin das sprichwörtliche Zünglein an der Waage spielen bei Fragen etwa der Altersvorsorge. Gesellschaftspolitisch wird die neue Mitte fortschrittlicher sein, denn trotz den Verlusten der BDP werden die Mitteparteien in der Summe gesellschaftsliberaler. Etwa in Fragen der Gleichstellung von Schwulen und Lesben oder der Legalisierung von Cannabis.
… ist wesentlich besser als in den vergangenen vier Jahren.
3. DIE LINKE IST STÄRKER
Trotz der politisch und persönlich bitteren Nichtwiederwahl von Unia-Industriechef Corrado Pardini sind die Chancen für eine Politik im Sinne der Lohnabhängigen wesentlich besser als in den vergangenen vier Jahren. Denn für die reale Politik im Bundeshaus sind nicht bloss die Grössen der jeweiligen Fraktionen entscheidend, sondern auch, wie sie zusammengesetzt sind. Und da zeigt sich, dass aus gewerkschaftlicher Sicht die vielen grünen Sitzgewinne die paar SP-Verluste mehr als aufwiegen. Als Beispiel der Kanton Zürich, der am meisten Nationalrätinnen und Nationalräte nach Bern schickt: Zwei doch eher gewerkschaftsferne SP-Männer wurden ab- und dafür eine fortschrittliche Frau reingewählt. Die beiden SP-Sitzverluste werden überkompensiert durch die drei Sitzgewinne der Grünen: Drei dezidiert linke Frauen, darunter VPOD-Präsidentin Katharina Prelicz-Huber und Marionna Schlatter, die auch gute Chancen hat, das links-grüne Zürich im Ständerat zu vertreten.
Überhaupt der Ständerat! In der abgelaufenen verlorenen Legislatur mit der blockierenden hart-rechten Mehrheit aus SVP und FDP im Nationalrat kamen die wenigen funktionierenden Lösungen aus dem Stöckli. Das wird die kommenden vier Jahre wohl weniger der Fall sein müssen, aber wenn doch: auch der Ständerat wird tendenziell linker und weiblicher. Selbst wenn noch viele zweite Wahlgänge anstehen, sei die Prognose gewagt: dem Verlust des Sitzes der Aargauer SPlerin Pascale Bruderer stehen bereits jetzt zwei grüne Sitzgewinne gegenüber. Und weitere links-grüne Sitze scheinen in Reichweite. Unter anderem eben in Zürich (Marionna Schlatter), in Bern (Regula Rytz), in Basel-Land (Maya Graf), in Genf (Lisa Mazzone) und in der Waadt (Adèle Thorens). Selbst im mehrheitlich rechtsnationalen Aargau, in dem die SP mit einem konsequent fortschrittlichen Wahlkampf einen Nationalratssitz gewonnen hat, könnte nach dem Verzicht von Cédric Wermuth (SP) auf den zweiten Wahlgang die Überraschung gelingen und mit Ruth Müri eine soziale Grüne in den Ständerat einziehen. Auch die bisherigen SP-Ständeräte (darunter Parteichef Christian Levrat FR, Ex-SGB-Präsident Paul Rechsteiner SG, der Gewerkschafter Roberto Zanetti SO und die Sozi-Saftwurzel Hans Stöckli BE) dürften die Wiederwahl im zweiten Wahlgang schaffen.
Doch Parlamentssitze sind nicht alles. Die Schweiz braucht eine ökosozial-feministische Wende. Und die kann nur gelingen, wenn die soziale Frage, die feministische Frage und die ökologische Frage als gemeinsamer Kampf begriffen werden, geführt auf der Strasse, in den Betrieben und im Parlament. Von Bewegungen, Gewerkschaften und fortschrittlichen Parteien.
Bundesrats-Spiele: Wassermelone statt Cassis
Zu den unterhaltsamsten Spielen nach den nationalen Wahlen und vor der ersten Session des neuen Parlaments gehören Spekulationen über Veränderungen im Bundesrat. Meist passiert nichts. Diesmal könnte es anders sein. Der Anspruch der Grünen auf einen Bundesratssitz ist gegeben. Die Frage ist nur: Wer muss ihn rausrücken? Auch dieser Fall ist eigentlich klar: die FDP. Nicht in erster Linie, weil sie Stimmenanteile und Sitze verloren hat, sondern weil nach dem Schulterschluss mit der SVP die Rechte im Bundesrat übervertreten ist. Das war sie bereits vor den Wahlen und ist es jetzt erst recht.
DER DRITTE SVPLER. Die neugewählte Karin Keller-Sutter macht eine eigenständige solid bürgerliche Politik. Sie ist eine Bereicherung für den Bundesrat. Im Gegensatz zu ihrem Parteikollegen Ignazio Cassis. Er verdankt seine Wahl der SVP und ist eigentlich der dritte SVP-Bundesrat. Cassis wollte die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit schleifen und damit den Schweizer Lohnschutz schwächen. Ganz so, wie es die SVP auch will.
Unia-Chefin Vania Alleva zu den Wahlen:«Insgesamt sehr erfreulich»
UNIA-CHEFIN VANIA ALLEVA.
«Die SVP wurde abgestraft, die rechtsbürgerliche Mehrheit im Nationalrat ist weg, die Linke wurde insgesamt gestärkt – das hat mich sehr gefreut. Damit wir den ökosozialen Umbau schaffen, braucht es nun weiterhin den Druck der Frauen, der Klimajugend, der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen.
Dabei wird uns mit Corrado Pardini im Parlament ein wichtiger Vertreter sehr fehlen. Seit acht Jahren hat er sich dort überzeugend für die Interessen der Arbeitnehmenden eingesetzt und im Zusammenspiel mit Paul Rechsteiner die gewerkschaftlichen Positionen im Stände- und Nationalrat wesentlich verstärkt. Seine Nicht-Wiederwahl – trotz sehr gutem persönlichem Resultat – ist ein herber Verlust. Aber als Vollblutgewerkschafter geht ihm die Arbeit nicht aus. Ich bin überzeugt, Corrados Einsatz für bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen, für mehr soziale Gerechtigkeit wird weiter Früchte tragen.
Der neoliberale Think-Tank Avenir Suisse versucht nun, Corrados klare Haltung beim institutionellen Rahmenabkommen für seine Abwahl verantwortlich zu machen. Die Absicht ist durchsichtig – die Analyse falsch, wie nur schon etwa die glänzende Wahl von SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard zeigt.»