Zugbegleiterin Mélissa Farine: «Die Gäste sind mir anvertraut»

Ob nach Domodossola, Brig oder Luzern: Mélissa Farine begleitet die Reisenden, hilft, kontrolliert. Und verteilt auch mal eine Busse.

IMMER UNTERWEGS: Zugbegleiterin Mélissa Farine mag keinen monotonen Austausch. (Fotos: Matthias Luggen)

Genf–Zürich via Neuenburg, im ICN. Dort arbeitet Mélissa Farine am liebsten. «Wenn ich diese Strecke fahren darf, dann wird es ein guter Tag.» Die 20jährige knöpft den Mantel der Uniform auf, rückt die rote Umhängetasche zurecht und schüttelt lachend ihre roten Locken. «Weil es dem See entlang traumhaft schön ist. Und weil ich den Neigezug mag.»

Mélissa Farine ist Zugbegleiterin. Für sie steht weniger der Zug als die Begleiterin im Vordergrund: Das Schöne an ihrem Beruf sei, die Reisenden zu unterstützen. Zum Beispiel, wenn Touristen am Flughafen Genf einsteigen und keine Ahnung haben, wie sie von dort zu ihrem Hotel kommen. Farine sagt: «Die Fahrgäste sind mir anvertraut, ich fühle mich verantwortlich für sie.»

Generell seien die Leute freundlich. «Aber wenn ich natürlich am Montagmorgen im ersten Zug bereits auf gute Laune mache, kann ich verstehen, dass die Leute lieber schlafen möchten.» Ob es ihr gelinge, einen guten Kontakt mit den Fahrgästen zu haben, hänge stark von ihrer inneren Einstellung ab, erklärt Farine. «Wenn ich nicht ganz dabei bin, gibt es einen monotonen Austausch. Wenn ich aber voll präsent bin, ist meine Arbeit interessanter.» Wenn sie Zugchefin ist, darf sie viele Entscheidungen alleine treffen, kann also auch mal die Gäste erste Klasse fahren lassen, wenn die zweite voll ist.

Zufrieden ist sie dann, wenn sie auch in schwierigen Situationen eine Lösung findet, die für den Kunden oder die Kundin stimmt – und für sie selbst. Auch bei den Bussen. Da seien die Passagiere zunächst natürlich wenig erfreut. Aber wenn sie sich dann etwas Zeit nehme, mit dem Gast spreche, ihre Arbeit erkläre, dann seien die meisten schon wieder etwas positiver eingestellt. «Das ist meine tägliche Challenge!» Aber weil sie sehr offen sei und die Menschen liebe, falle es ihr nicht schwer.

Mélissa Farine ist seit fünf Jahren bei den SBB, sie hat bereits ihre Lehre dort gemacht. Nur ein einziges Mal hat sie in dieser Zeit eine wirklich unangenehme Situation erlebt. Es war Sommer, gefühlte 40 Grad draussen, über 1000 Passagiere an Bord, und in zwei Wagen streikte die Klimaanlage. «Ich war schweissgebadet, gar nicht präsentabel, als ich in den Wagen kam.» Als sie dann die Billette kontrollieren wollte, schrie ein Mann sie an: Sie solle gescheiter die Klimaanlage anwerfen! Sie habe ihm dann erklärt, dass sie bereits alles Mögliche versucht habe, entschuldigte sich. Doch der Mann liess nicht locker, liess seine ganz Wut an ihr aus. «Er hat mich runtergeputzt, als wäre ich ein kleines Mädchen, dabei bin ich freundlich geblieben und konnte wirklich nichts dafür.»

«GESCHÄTZTE FAHRGÄSTE …»: Zugbegleiterin Mélissa Farine macht Durchsagen, begleitet die Reisenden, macht Billettkontrollen und schaut, ob bei den Wagen alles in Ordnung ist.

JUNGE GEWERKSCHAFTERIN. Eine Routine kennt Mélissa Farine nicht. Die Gäste seien jeden Tag anders. Auch ihr Einsatzplan wechselt häufig. Ihr Arbeitstag beginnt meistens in Genf, mal frühmorgens, mal spätabends, mal mitten am Tag, jede Woche anders. Sie fährt nach Zürich, Luzern, Brig oder Domodossola, macht dort Pause, fährt zurück. Auf manchen Strecken ist sie für die statistischen Erhebungen verantwortlich. Sie arbeitet sechs Tage am Stück und hat dann zwei oder drei Tag frei, doch jeweils nur an einem Wochenende pro Monat. «Mit den unregelmässigen Arbeitszeiten ist es nicht immer einfach, die Freizeit zu organisieren», sagt Farine.

Trotzdem nimmt sie sich viel Zeit für Familie und Freunde. Und auch für die Treffen der SEV-Jugend. Zur Transportgewerkschaft kam Farine über eine Freundin – und war von Anfang an begeistert. An den SEV-Treffen schätzt Farine besonders den Austausch mit jungen Leuten aus der ganzen Schweiz. «Im SEV kann ich einfacher über den Berufsalltag sprechen als mit meinen Freundinnen.» Sie fühle sich in dieser Gruppe unterstützt und gestärkt. Und: «Mit der SEV-Jugend können wir der älteren Generation zeigen, dass wir gute Arbeit leisten. Denn nur weil wir jung sind, heisst das noch lange nicht, dass wir nichts können.»

ALTE BILDER. Mit dem SEV fuhr sie auch an ihre erste Demo. «Ein unvergessliches Erlebnis.» Es war ein Treffen der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (EFT) in Brüssel. «Ich war mit Italienerinnen, Spaniern oder Rumäninnen unterwegs. Es war ein wundervoller Moment der internationalen Solidarität.» Und solche Momente seien wichtig. Denn: «Die Welt wird immer individualistischer. Wenn es mir gutgeht, denke ich nicht unbedingt an die anderen.» Im Austausch mit den Bähnlerinnen und Bähnlern habe sie auch gemerkt: «Wir sind sehr privilegiert in der Schweiz.» Aber trotzdem könnte einiges verbessert werden. Zum Beispiel ergonomischere Umhängetaschen. «Denn diese Taschen sind zu schwer. Wir haben darin Drucker, Lochzange, Telefon, Schlüssel, Taschenlampe – und noch viel mehr.» Viele ihrer älteren Kolleginnen und Kollegen hätten deswegen mit Rücken- oder Hüftproblemen zu kämpfen. Und die SBB sollten sicherstellen, dass immer zwei Zugbegleiterinnen oder Zugbegleiter pro Zug mitfahren, in der Nacht sogar mehr.

Und wieso arbeiten nicht mehr Frauen bei den SBB? Mélissa Farine richtet ihren wachen Blick auf die Wand: «In allen Depots und Büros der SBB hat es alte Bilder. Auf diesen Bildern ist keine einzige Frau zu sehen. Wir sind viel zu sehr in diesen alten Bildern verhaftet.» Dabei gebe es viele Frauen, die den gleichen Job machten wie sie, auch Mütter. «Wir sollten diese Frauen sprechen lassen.» So wie Mélissa Farine: «Ich fühle mich sehr wohl bei den SBB und werde diesen Job noch lange machen.»


Mélissa Farine Familienmensch

Mélissa Farine kommt aus St-Imier im Berner Jura. Obwohl sie jetzt in Genf lebt, ist sie ihrer alten Heimat sehr ver­bunden geblieben. Sobald sie Zeit hat, geht sie nach Hause zu ihren Eltern und ihrer Zwillingsschwester oder besucht ihre Freundinnen. «Das gibt mir Energie, da fülle ich meine Batterien auf.» Beginnt ihre Schicht erst um 16.30 Uhr, dann gehe sie oft noch kurz nach Hause zum Mittagessen – zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück, natürlich im Zug.

SELBSTÄNDIG. Die Lehre hat Mélissa Farine bei Login in Biel gemacht. Login ist der Bildungs­partner der SBB und anderer Bahn­betriebe. Für einen Teil der Ausbildung bestimmt Login, wo die Lernenden hinmüssen. Deshalb wohnte Farine bereits als 15jährige alleine in der Jugendherberge in Lausanne. «Das ist gut! So wird man schnell selbständig.» Während sechs ­Monaten hat die Westschweizerin auch in Olten gearbeitet. «Am Anfang verstand ich nur Bahnhof, doch zum Glück lernte ich schnell die wichtigsten Wörter.»

Mélissa Farine ist Mitglied beim SEV. Mit ihrem 100-Prozent-Pensum verdient sie 4539 CHF brutto.

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