Was ist bloss los bei den Migrationsbehörden?
Amtswillkür!

Im ­Migrationsbereich häufen sich Fehler, Verzögerungen und Schickanen: drei haarsträubende Fälle.

Behördenopfer: Martina Altagracia (Thurgau, linkes Bild), Adelina Bekteshi (Schaffhausen) und Andrés Hurtado (Zürich). (Foto: Michael Schoch)

Martina Altagracia (52) war eigentlich guter Dinge, als sie im September 2017 auf das Einwohneramt von Sulgen TG ging. Denn nach monatelangem Warten hatte ihr das Amt mitgeteilt, sie könne ihre Aufenthaltsbewilligung abholen kommen. Diese musste sie als Italienerin auf der Gemeinde deponieren, als sie mit ihrem Mann von Zürich in den Thurgau zügelte. Nun würde sie die wichtigen Papiere endlich wieder in den Händen halten können, dachte die zweifache Mutter, die damals zwei unbefristete Arbeitsverträge hatte.

B-Ausweis wird plötzlich L-Bewilligung …

Sie putzte Tag für Tag in einem Spital und mehrmals pro Woche auch in Privathaushalten. In beiden Fällen war sie in Stundenlohnverträgen angestellt. Doch am Schalter traf Altagracia fast der Schlag: Aus ihrem B-Ausweis, den sie vom Kanton Zürich eben erst erhalten hatte und der sie zu einem Aufenthalt von fünf Jahren berechtigte, hatte das Thurgauer Migrationsamt einfach einen L-Ausweis gemacht. Der gestattet bloss einen «Kurzaufenthalt» – in ihrem Fall von einer Dauer von nicht einmal drei Monaten. Altagracia: «Für mich brach die Welt zusammen.» Warum hatte ihr das Amt das angetan? Altagracia meldete sich bei der Unia. Als Unia-Jurist Javier Suarez beim Migrationsamt nachfragte, antwortete dieses: Altagracia sei ja nur stundenweise angestellt und werde daher früher oder später wahrscheinlich auf Sozialhilfe angewiesen sein. Angeblich Grund genug, die B- durch eine L-Bewilligung zu ersetzen.

Suarez sah sich gezwungen, der Behörde eine Lektion in Migrationsrecht zu erteilen: Erstens reicht eine blosse Vermutung nicht, um eine Aufenthaltsbewilligung zu entziehen. Zweitens kennt das Gesetz nur den Begriff der Erwerbstätigkeit und unterscheidet nicht zwischen verschiedenen Anstellungsverträgen. Und drittens braucht es für den Widerruf einer B-Bewilligung eine schriftliche Verfügung. Dass sie diese Grundsätze missachtet hatte, konnte die Thurgauer Behörde nicht leugnen. Schliesslich gab sie Altagracia ihre 5-Jahres-Bewilligung zurück.

SCHLUDRIGKEITEN IN ZÜRICH

In Schock versetzten die Aus­länderbehörden auch Andrés Hurtado (58). Der Spanier kam vor neun Jahren nach Zürich und arbeitete Vollzeit auf dem Bau. Bis zum Unfall: Ein junger Temporärarbeiter löste in einem Rohbau den falschen Stützspriess, so dass die gesamte Deckenschalung herunterbrach. Hurtado: «Ich sah es kommen und wollte den Kollegen noch retten.» Vergebens. Beide verletzten sich schwer. Als Hurtado wieder als arbeitsfähig eingestuft wurde, stellte die Suva die Tag­gelder ein. Doch zurück auf den Bau dürfe er unter keinen Umständen gehen, riet ihm sein Arzt.

Unfall gilt plötzlich als selbstverschuldet …

Bloss: Eine andere Arbeit fand der Spanier nicht, trotz diversen Deutsch-, Integrations- und Weiterbildungskursen. Also blieb ihm nur noch die Sozialhilfe. Für Hurtado ein Schock: «Ich habe mein ganzes Leben lang gearbeitet und bin nicht in die Schweiz gekommen, um vom Sozialstaat zu leben.» Doch es kommt noch schlimmer: Ende 2018 teilt ihm das Zürcher Migrationsamt mit, er habe genau ein Jahr Zeit, um aus der Sozialhilfe zu kommen, ansonsten werde seine B-Bewilligung widerrufen.

Wieder musste Unia-Jurist ­Suarez intervenieren: «Ich konnte eindeutig beweisen, dass die Behörde ihre Pflichten verletzt hatte.» Sie prüfte nämlich nicht, ob Hurtado selbstverschuldet Sozialhilfe bezieht und ob er sich um eine neue Stelle bemüht. Trotzdem dauerte es ein halbes Jahr, bis Hurtados Aufenthaltsbewilligung verlängert wurde.

Dabei wäre dieses aufwendige Verfahren gar nicht nötig gewesen. Weil Spanien zu jenen 17 Ländern gehört, mit denen die Schweiz vereinfachte Niederlassungsvereinbarungen abgeschlossen hat. Bauarbeiter Hurtado hätte deshalb schon nach fünf Jahren in der Schweiz Anrecht auf die unbefristete Niederlassungsbewilligung C gehabt. Doch das Migrationsamt hatte Hurtado nie über diese Vereinbarung informiert.

FUNKTSTILLE IN SCHAFFHAUSEN

Auch Post-Mitarbeiterin Adelina Bekteshi (22) weiss, was es heisst, den Migrationsbehörden ausgeliefert zu sein. Die Italienerin lebte mit ihrem Vater im Wallis, bevor sie zusammen nach Schaffhausen zogen. Im März 2017 kamen auch Adelinas Mutter und ihre jüngere Schwester von Italien an den Rhein und meldeten sich auf der Gemeinde an. Wie es sich eben ­gehört.

Doch das Schaffhauser Mi­grationsamt lässt sich Zeit, sehr viel Zeit. Bekteshi sagt: «Bis auf den heutigen Tag ist weder meine Mutter noch meine Schwester in Besitz irgendeiner Aufenthalts­bewilligung!» Nicht einmal eine Eingangsbestätigung erhielten die beiden. Absolute Funkstille herrschte selbst dann noch, als der Vater mehrmals auf dem Mi­grationsamt vorgesprochen hatte. Nur einmal, erzählt Tochter Bekteshi, habe ein Verwaltungsangestellter ihrem Vater ein Angebot gemacht: «Wenn Sie Ihre B-Bewilligung zurückgeben, können dafür Ihre Frau und Ihre Tochter eine erhalten.»

… und keine Antwort ist auch eine Antwort.

Schikanen wie diese machen der Familie Bekteshi schwer zu schaffen. Denn ohne geregelten Aufenthalt hat Adelinas Mutter keine Chance, einen neuen Job zu finden. Deshalb muss sie weiterhin als Gebäudereinigerin in prekärsten Verhältnissen arbeiten. Und die Schwester findet ohne Aufenthaltsbewilligung keinen Lehrbetrieb, der sie einstellen will. Auch die Autoprüfung darf sie ohne Papiere nicht machen. Trotz allem ist Adelina Bekteshi zuversichtlich: «Wir sind im Recht und geben nicht auf!» Nächste Woche wird sie mit Unia-Jurist Suarez beim Schaffhauser Regierungsrat Beschwerde wegen Rechtsverweigerung einlegen. Dann dürfte es endlich vorwärtsgehen.


Unia-Jurist Suarez: «Es kommt sehr häufig zu verrückten Entscheiden»

MIGRATIONSJURIST: Javier Suarez hat meistens Erfolg. (Foto: Michael Schoch)

work: Sind die Fälle von Altagracia, Hurtado und Bekteshi Ausnahme­fälle?
Javier Suarez: Leider nicht. Es kommt sehr häufig zu verrückten und überhaupt nicht nachvollziehbaren Entscheiden. Oft fällen die Ämter einfach mal einen Entscheid und warten ab, ob die betroffene Person diesen akzeptiert oder ob sie Widerspruch einlegt. Willkürfälle im Ausländerrecht sind ein altbekanntes Problem. Die Anwaltschaft wie auch die Rechtswissenschaft prangern das seit Jahren an.

Warum ändert sich nichts?
Es ändert sich durchaus etwas. Aber in die falsche Richtung. Die drei geschilderten Fälle (siehe Artikel links) sind klare Folgen einer immer restriktiveren Migrationspolitik. Seit dem 1. Januar ist ja das verschärfte neue Ausländer- und Integrationsgesetz in Kraft. Wir Migrationsjuristen haben seither viel mehr Widerrufsverfügungen auf dem Tisch als früher. Den Leuten wird häufiger die Aufenthaltsgenehmigung B entzogen, die zu einem Aufenthalt von fünf Jahren berechtigt. Und heute ist für viele auch die Niederlassungsbewilligung C nicht mehr sicher, die eigentlich bedingungslosen und uneingeschränkten Aufenthalt garantiert. Früher konnte einer Person, die seit mehr als 15 Jahren mit einer C-Bewilligung in der Schweiz lebte, die Niederlassungsbewilligung nicht entzogen werden, nur weil sie plötzlich auf Sozialhilfe angewiesen war. Heute gilt das zum Beispiel nicht mehr. Zudem können die Mi­grationsämter neu die Personendossiers der Sozialhilfebehörden einfordern. Wenn sie darin sehen, dass jemand vom Sozialstaat abhängig ist, schicken sie sofort eine Verwarnung. Oft ohne vorher geprüft zu haben, ob die Arbeitslosigkeit oder der Sozialhilfebezug selbstverschuldet seien.

Sind gewisse Migrationsämter einfach unfähig oder absichtlich gemein?
Meist sind nicht die einzelnen Sachbearbeitenden das Problem. Sie handeln nicht bewusst willkürlich. Die Rechtsfehler sind eher die Folge einer Institutionalisierung der restriktiven Migrationspolitik. Allerdings stechen einzelne Migrationsbehörden als besonders unbarmherzig heraus, jene der Kantone Zürich und Thurgau sind unter Juristen besonders verrufen. In Zürich etwa fällen einfache Sachbearbeiter wichtige Entscheide, die für die Betroffenen existentielle Folgen haben. Dabei brauchte es dafür juristische Fachpersonen und eine Kontrollinstanz. Es werden aber einfach standardisierte Richtlinien angewendet. Solche Automatismen darf es in einem Rechtsstaat aber nicht geben. Jeder Einzelfall muss sorgfältig geprüft werden.

Was raten Sie Betroffenen der Ämterwillkür?
Nicht verzweifeln, sondern sich Hilfe holen, etwa bei der Unia! Meistens haben wir Erfolg.

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