Der Vertrag im Coiffeurgewerbe läuft Ende Jahr aus. Jetzt verbietet ein Zürcher Gericht die laufenden Verhandlungen. Das gab es noch nie!
VERDREHT: Sind Coiffeusen bald schon ohne GAV? (Foto: Keystone)
Steht die Coiffeurbranche bald ohne Gesamtarbeitsvertrag (GAV) da? Der jetzige Vertrag läuft Ende Jahr aus. In den nächsten Wochen müssen Gewerkschaften und Arbeitgeber einen neuen aushandeln. Es pressiert: Damit der Bund den Vertrag rechtzeitig als allgemeinverbindlich erklären kann, müssten die Gremien der drei Sozialpartnerinnen Unia, Syna und Coiffure Suisse noch im Frühling über das Verhandlungsresultat entscheiden. Denn das letzte Mal brauchte der Bund 8 Monate.
Die wichtigste Forderung der Coiffeusen und Coiffeure in der Unia: der 13. Monatslohn. Endlich! Immer noch müssen die rund 10 500 Arbeitnehmenden in der Branche ohne 13. Gehalt leben, das sonst fast überall eine Selbstverständlichkeit ist.
Seit letztem September laufen die Verhandlungen. Am 19. Februar war eine weitere Runde angesagt, an der es endlich zur Sache gehen sollte. Aber daraus wurde nichts.
Nur fünf Tage vor dem Termin bekamen die Sozialpartnerinnen eingeschriebene Post. Die Richterin Erika Stoffel vom Bezirksgericht Zürich verbietet die Verhandlungen per superprovisorische Verfügung. Unter Androhung einer Busse von bis zu 10’000 Franken! Stoffel ist SVP-Mitglied.
So etwas hat selbst der Arbeitsrechtsprofessor Thomas Geiser noch nie erlebt: Das Gericht habe das öffentliche Interesse an einem Gesamtarbeitsvertrag völlig ausser Acht gelassen, kritisiert er auf Anfrage (siehe Interview unten).
«Das grenzt an Erpressung!»
FRONTALANGRIFF AUF GAV
Die Verfügung veranlasst hat die Vereinigung Schweizer Coiffeur Unternehmen (VSCU). Dieser Verein, der erst seit gut einem Jahr besteht, will den GAV mitverhandeln. Dafür müsste er aber zuerst dem bestehenden GAV beitreten. Das geht mit einem Gesuch an alle bisherigen Sozialpartnerinnen. Doch die VSCU stand ausschliesslich mit den Arbeitgebern von Coiffure Suisse in Kontakt – mit Ausnahme eines Pro-Forma-Telefons an die Unia drei Tage vor der Gerichtseingabe. Véronique Polito, die für die Unia die Verhandlungsdelegation leitet, sagt: «Unia und Syna haben von der VSCU nie ein formelles Gesuch zum GAV-Beitritt erhalten.» Dass der Verein stattdessen ein Gericht einschalte, «grenzt an Erpressung und ist ein Frontalangriff auf den GAV».
Denn keine Verhandlungen heisst: kein GAV ab 2021. Und damit Wildwest bei den Löhnen. Das würden vor allem die grossen Ketten ausnützen, sagt Polito: «Sie würden die Preise und die Löhne massiv drücken.» Die Leidtragenden wären die rund 10’500 Coiffeusen und Coiffeure in der Schweiz, die schon jetzt tiefe Löhne haben.
GIDOR & CO.
Doch was treibt die VSCU an? Wer steckt überhaupt dahinter? Der Verein schreibt work, er vertrete die Arbeitgeber von rund 2500 Mitarbeitenden. Überprüfbar ist das nicht. Ein Mitgliederverzeichnis existiert auf der Homepage nicht. Nur eine Liste von gerade einmal 31 Firmen, die «unser Vorhaben unterstützen». Die bekannteste unter ihnen ist die Coiffeurkette Gidor. Unter den Unterstützern ist auch «Hairstylist Pierre», der 2017 für negative Schlagzeilen sorgte (siehe Box).
Recherchen zeigen: Mehrere Firmen auf der Liste gehören den gleichen Inhabern. Unia-Frau Polito sagt: «Insgesamt vertritt der Verein höchstens 20 Eigentümerinnen und Eigentümer. Bei über 4000 Arbeitgebern in der Branche ist es fraglich, wie repräsentativ das ist.» Und was meint die VSCU selber? Sie beteuert gegenüber work, sie wolle keinen vertragslosen Zustand. Und sie stehe «vollumfänglich hinter dem aktuellen GAV». Warum gefährdet sie ihn dann?
Die Unia hat sich gegen den Gerichtsentscheid zur Wehr gesetzt. Wann das Gericht darauf eintritt, ist derzeit unklar. Im Entscheid steht nur, das Verfahren werde «demnächst fortgesetzt». work bleibt dran.
Hairstylist Pierre: Gratisarbeit
Mitglied im neuen Arbeitgeberverein VSCU ist auch die Firma «Hairstylist Pierre», der auch die Salons der Marke «Cut and Color» gehören. Die Unia verlieh ihnen im Dezember 2017 einen Schmähpreis für besonders schlechte Lehrbetriebe. Denn eine Lehrstelle bekam dort nur, wer zuerst gratis arbeitete (work berichtete: rebrand.ly/pierre). Statt Lohn gab’s eine Rechnung: für Arbeitsmaterial wie Scheren und Bürsten.
BIZARR. Die Verantwortlichen der Firma sind heute die gleichen wie damals. Auffällig: Mit Ausnahme des Gründers kommen sie nicht aus der Branche. CEO ist Martin Krupp, der zuvor in der Immobilien- und Finanzdienstleistungsbranche tätig war. Ein Verwaltungsrat ist Chef einer Baufirma, ein anderer war zuvor Verwaltungsratspräsident von Valora und Manor.
Arbeitsrechtsprofessor Thomas Geiser (67) kritisiert Verhandlungsverbot: «Schwer nachvollziehbar»
Da kann der renommierte Arbeitsrechtler Thomas Geiser, bis 2017 Professor an der Uni St. Gallen, nur den Kopf schütteln – und einen heissen Tipp geben.
Arbeitsrechtler Thomas Geiser. (Foto: Keystone)
work: Thomas Geiser, das Bezirksgericht Zürich verbietet den Sozialpartnerinnen, ohne die VSCU über den GAV zu verhandeln. Ist das gerechtfertigt?
Thomas Geiser: Eine solche superprovisorische Verfügung setzt Dringlichkeit voraus. Hier liegt aber die Dringlichkeit auf der Seite der bisherigen Sozialpartner Unia, Syna und Coiffure Suisse: Wenn sie nicht rechtzeitig einen neuen Vertrag abschliessen können, entsteht der Branche möglicherweise erheblicher Schaden. Dass das Gericht die Dringlichkeit anders einschätzt, ist weltfremd.
Ein Fehlurteil?
Zumindest eine Gewichtung, die schwer nachvollziehbar ist. Denn es besteht ja ein öffentliches Interesse daran, dass ein Gesamtarbeitsvertrag nahtlos verlängert werden kann. Und das fehlt in den Erwägungen des Gerichts.
Kennen Sie ähnliche Gerichtsentscheide?
Nein, mir ist nichts Vergleichbares bekannt.
Mir ist nichts Vergleichbares bekannt.
Die Gewerkschaften hatten bisher kaum Kontakt mit den Coiffeurunternehmern vom VSCU. Trotzdem trifft sie jetzt das Verbot massiv …
… und das hätte das Gericht beachten müssen. Denn es ist nicht die Schuld der Gewerkschaften, dass die VSCU bisher nicht Verhandlungspartnerin ist.
Wie lange bleibt das Verbot in Kraft?
Bis das Gericht definitiv entscheidet. Und das ist eine weitere Merkwürdigkeit: Normalerweise setzt ein Gericht eine Frist, bis wann die definitive Verhandlung stattfindet, an der dann auch die Gegenparteien angehört werden. Das hat das Gericht nicht gemacht. Weshalb, ist mir unverständlich.
Die Unia wehrt sich juristisch gegen die Verfügung. Was kann sie sonst noch tun?
Die bisherigen Sozialpartner könnten sich natürlich trotzdem treffen.
Und die hohe Busse bezahlen?
Nein! Sie sagen einfach: Das ist ein Gespräch, keine Verhandlung. Das ist nicht verboten.