Im Engadin ist die Unia auch im Hochgebirge präsent. Zum Beispiel beim Service- und Küchenpersonal auf dem Piz Corvatsch. Und los geht’s auf 3303 Meter über Meer!
PISTEN-Stürmer: Einmal im Jahr besucht Unia-Mann Arno Russi die Mitarbeitenden in den Restaurants im Nobelskiort St. Moritz. (Foto: Nico Zonvi)
Es ist affenkalt an diesem Januarmorgen in St. Moritz. Und trotzdem steht Arno Russi bereits zwanzig Minuten vor Abfahrt der ersten Gondel an der Talstation der Corvatsch-Bahn. So hat er noch Zeit für ein Schwätzchen hier, ein Witzchen da. Und das gehört für Russi unbedingt dazu. Schliesslich ist der gebürtige Puschlaver hier kein Unbekannter. Während 22 Jahren hatte er als Postautofahrer das halbe Engadin durch die Gegend chauffiert. Und gelernt: «Der Direktkontakt mit den Leuten schafft Vertrauen.» Dieses Wissen hilft ihm jetzt auch als Sektionsleiter der Unia Räthia-Linth. Denn Russi versteht sich als «klassischen Allrounder der Gewerkschaftsarbeit». Neben Besuchen von Baustellen, Fabriken und Ladengeschäften heisst das viel Büroarbeit, zudem Abendschichten, Gerichtstermine und lange Reisezeiten durch die halbe Ostschweiz. Heute aber ist ein ganz besonderer Tag. Russis jährliche Skirundtour durch das Nobelresort St. Moritz steht an. Es befindet sich direkt vor seiner Haustür. Das Tagesziel: möglichst viele Bergrestaurants abklappern und das Gastropersonal über seine Rechte informieren. Und über die Ziele der Gewerkschaft. Los geht’s auf 3303 Meter über Meer!
VOR DEM ANSTURM
Im Gipfelrestaurant ist noch kein einziger Gast eingetroffen. «Perfekt», sagt Russi und geht mit einem «Buongiorno!» auf zwei Servicemitarbeiterinnen zu. Sie sind italienische Grenzgängerinnen aus der nahen Lombardei und arbeiten jeden Winter in der Engadiner Gastronomie. Die ältere der beiden Frauen erkennt Russi sogleich: «Du bist doch der von der Gewerkschaft!» Russi nickt, hält einen kurzen Schwatz und kommt dann sofort auf den Punkt: «Hört zu, ich habe euch hier etwas mitgebracht.» Er packt eine Petition aus und erklärt: «Wir sammeln Unterschriften für einen Gesamtarbeitsvertrag mit höheren Mindestlöhnen, einer Frühpensionierung und besseren Arbeitszeitkontrollen.» Das kommt an. Plus zwei Unterschriften für die Petition. Dann tippt Russi auf sein Handy: «Kennt ihr die neue GAV-App?» Er öffnet das mehrsprachige Programm und scrollt durch den digitalisierten Landes-Gesamtarbeitsvertrag (L-GAV) im Gastgewerbe. Russis Rat: «Einfach herunterladen, und ihr wisst jederzeit über eure Rechte Bescheid.» Interessiert stossen zwei Köche hinzu. Russi fragt nach, ob alles in Ordnung sei im Betrieb, hört lange zu und erteilt dann Ratschläge. Zum Dank wird Kaffee offeriert. Russi schaut auf die Uhr: «Ein Espresso liegt gerade noch drin.»
«Du bist doch der von der Gewerkschaft!»
AM STAMMTISCH
Dann geht’s auf die Piste. Frisch präpariert sind sie, menschenleer und breit wie amerikanische Autobahnen. Russi spurt vor. In der Hocke schnellt er pfeilgerade den Hang hinunter – bis zur Ustaria Rabgiusa: Fullstop! Auch in dieser Beiz hockt noch kein Mensch. Eintritt Russi: «He, dich kenne ich doch von der letzten Saison!» ruft er dem Pizzaiolo zu. Dieser grüsst zurück, schwingt einen Teig, und trommelt dann seine Kolleginnen und Kollegen zusammen. Bald sind am Stammtisch drei Köche, ein Pizzaiolo, ein Kellner und eine Kassierin versammelt. Allesamt italienische Grenzgängerinnen und -gänger. Zunächst zurückhaltend erzählen sie von ihrem Arbeitsalltag. Dann sagt ein Koch: Er habe enorme Überstunden, aber trotzdem keine Vollzeitstelle. Und die Kassierin fragt, ob die täglichen Gondelfahrten eigentlich Arbeitszeit seien oder nicht. Plötzlich wird Russi mit Fragen nur so bombardiert. Russi sagt: «Gebt mir mal die Nummer eurer Chefin» und versichert: «Ich komme am Freitag wieder, dann klären wir das.»
GEGEN DEN WILDWUCHS
Wieder auf den Ski, flitzen wir zur Hossa-Bar, doch in der Après-Ski-Hütte ist noch tote Hose. Also weiter in rassigem Tempo. Bis zum Ziel: Bereits vor Mittag hat Russi alle geöffneten Gaststätten am Corvatsch besucht, hat sich mit Küchen- und Servicepersonal unterhalten, hat stapelweise Infomaterial verteilt und Unterschriften gesammelt, Kontakte geknüpft. Aber auch vielen Vorgesetzten hat er sein Ohr geschenkt. «Das ist eben mein Stil», sagt Russi. Man müsse mit allen Leuten im Betrieb reden, auch mit den Chefs. So lasse sich vieles klären. Und nicht zuletzt merkten die Vorgesetzten so, dass die Unia sie im Auge habe. Russis Fazit: «Hier herrschen grossmehrheitlich korrekte Arbeitsbedingungen.» Was aber würde passieren, wenn Gewerkschaften fehlten? «Wildwuchs», sagt Russi, «der reinste Dschungel!» Dann steht er wieder auf seine Latten, nimmt Anlauf und düst davon. Auf der anderen Talseite warten noch ein Dutzend anderer Beizen.
Grenzgänger: St. Moritz setzt auf «Frontalieri»
Fast 7000 italienische Grenzgängerinnen und Grenzgänger arbeiten im Kanton Graubünden, davon die meisten in der Gastronomie, der Bauwirtschaft und im Gross- und Detailhandel des Engadins. Besonders angewiesen auf die täglich heimkehrenden Arbeitskräfte ist der Hochpreistourismus in St. Moritz. Dort entfällt ein Siebtel aller Stellen auf «Frontalieri» aus der Lombardei.
DUMPING. Einige Unternehmen versuchen, die Grenzgänger mit Dumpinglöhnen abzuspeisen und sie damit als Lohndrücker zu missbrauchen. Damit das nicht passiert, fühlt Unia-Mann Russi den Betrieben regelmässig auf den Zahn und organisiert zusammen mit der italienischen Gewerkschaft CGIL Informationsveranstaltungen.