Detailhandel: Druck, tiefer Lohn und erst noch Gratisarbeit:
Nun packen noch mehr Verkäuferinnen aus

Ungefragt versetzen sie­ Mitarbeitende in eine ­andere Filiale und ­zwingen sie zu Gratis­arbeit. Viele Chefs im Verkauf ­missbrauchen ihre Macht. Ein Unia-­Mitglied zeigt: Es geht auch anders.

AUCH DAS NOCH! Vor und nach der Arbeit an der Kasse müssen viele Verkäuferinnen Gratisabeit leisten. (Foto: Keystone)

Ständiger Druck, kein Respekt und Einsatzpläne, die den Druck zusätzlich erhöhen: Davon berichteten zehn Verkäuferinnen im letzten work (siehe Spalte rechts). Darauf haben sich jetzt weitere Mitarbeiterinnen gemeldet. Sie sagen: Nicht nur haben wir einen miesen Lohn, wir müssen sogar gratis arbeiten!

Zum Beispiel Ursina Ingold. Die 26jährige Verkäuferin hat auf Ende Februar ihren Job bei Denner gekündigt. Die 13-Stunden-Arbeitstage, von 7 bis 20 Uhr, «haben mich schier gelupft», sagt sie. Mit drei Pausen über den Tag verteilt kam sie auf elfeinhalb Stunden bezahlte Arbeit. Doch nach Ladenschluss ging es weiter. Gratis!

Das Aufräumen, Putzen und Umziehen habe im Schnitt fünf bis zehn Minuten gedauert, sagt sie: «Bezahlt wird aber nur bis Ladenschluss.»

«Ich muss 15 Minuten vor Ladenöffnung bereit sein. Unbezahlt.»

ZWEI WOCHEN GRATIS ARBEITEN

Sogar 20 Minuten oder mehr musste Barbara Karrer * jeden Tag gratis arbeiten, als sie im Warenhaus eines Grossverteilers angestellt war. Ihr Arbeitsort war die Lebensmittelabteilung im Untergeschoss. Sie rechnet vor: «Um bei Ladenöffnung bereit zu sein, mussten wir bei der Depositenkasse im ersten Stock unsere Kassette mit dem Münz abholen, nach unten gehen und die Kasse aufstarten. Das dauerte fünf bis zehn Minuten.» Bei der Ablösung zur Mittagspause musste sie die Kundschaft, die an der Kasse anstand, noch bedienen – nochmals fünf Minuten. Dito am Feierabend, danach abrechnen und die Geldkassette wieder zurückbringen, wieder fünf bis zehn Minuten.

Einmal hat Karrer beim Chef reklamiert. Doch der warf ihr vor, kleinlich zu sein. «Er sagte: Wir minütelen nicht.» Dabei geht es nicht um Minuten, sondern um Wochen: 20 Minuten pro Tag, das sind bei einer Vollzeitstelle rund zwei Wochen pro Jahr, die Barbara Karrer der Firma schenken musste. Dabei ist die Rechtslage klar: Zur Arbeitszeit gehören «auch alle Tätigkeiten, die am ­Arbeitsplatz vor der eigentlichen ­Arbeitshandlung getätigt werden müssen», hält das Seco fest. Auch Karrer hat unterdessen der Branche den Rücken gekehrt. Sie sagt: «Ich hab’s nicht mehr ausgehalten.»

Vesna Ilic * arbeitet als Coop-Verkäuferin. Auch sie wird erst bezahlt, wenn der Laden aufgeht. Die 22jährige sagt: «Es kommt darauf an, wer an dem Tag die Leitung hat.» Bei einigen sei es okay, dass sie an der Kasse stehe, wenn die Ladentür aufgehe. «Andere verlangen, dass ich 10 oder gar 15 Minuten vorher bereit bin. Unbezahlt.»

«Die Arbeitstage von 13 Stunden haben mich schier gelupft.»

DIE MACHT DER CHEFS

Das alles zeigt: Die Chefinnen und Chefs vor Ort haben viel Macht. Einige missbrauchen sie. Etwa der Chef von Franziska Weber * (55), die in einer kleinen Coop-Filiale arbeitet: Um
ihre vielen Überstunden abzubauen, würde sie gerne ein paar Tage hintereinander freimachen. Aber der Chef erlaubt ihr nur einen halben Tag am Stück. Sie sagt: «Was will ich mit einem halben Tag? Das reicht nicht, um sich zu erholen.» Seine Lieblinge bevorzuge der Chef dagegen: «Denen gibt er immer drei Tage oder eine ganze Woche am Stück.»

Mitsprache ist für viele Vorgesetzte ein Fremdwort. Coop-Verkäuferin Sandra Schwarz * (47) wurde von ihrem Chef vor ein paar Jahren ungefragt in eine andere Filiale versetzt. Plötzlich war ihr Arbeitsweg doppelt so lang. Im letzten Herbst bekam sie vom stellvertretenden Filialleiter sogar in den Ferien einen Anruf: Sie arbeite nach den Ferien wieder in einer anderen Filiale.

DIE LEUTE NICHT VERHEIZEN

Dass es anders auch geht, zeigt Sandrine Vuichard *. Sie ist Unia-Mitglied und Filialleiterin bei der Unterwäschekette Beldona. Jeden Monat bekommt sie von der Zentrale eine Vorgabe, für wie viele Stunden sie ihr Personal einplanen darf, damit die Verkäuferinnen immer voll ausgelastet sind. Aber sie wolle ihre Leute nicht auslaugen, sagt Vuichard: «Meist liege ich 50 bis 70 Stunden über der Vorgabe. Klar, das gibt vielleicht einen Rüffel. Aber ich bin noch nie entlassen worden.»

Wenn eine Verkäuferin krank wird, muss Vuichard Ersatz suchen. «Aber wenn eine Mitarbeiterin Nein sagt, ist das ein Nein.» Dann stehe halt einen Tag lang nur eine Verkäuferin im Laden, statt zwei. Vuichard: «Davon geht die Welt nicht unter.»

* Namen geändert

Unia-Umfrage: Für bessere Weiterbildung

Der Detailhandel ist im Umbruch, die Auf­gaben werden digitaler und komplexer. Da ist Weiterbildung wichtig. Was unter­nehmen Firmen, damit ihre Mitarbeitenden à jour bleiben? Und welche Bedürfnisse haben die Verkäuferinnen und Verkäufer? Die Unia will ein Pilot­projekt entwickeln und lanciert dazu eine Umfrage. Teilnehmen dürfen alle, die im Verkauf tätig sind.

zur Umfrage: findmind.ch/c/Bildungimverkauf


work-Extra: Die Krise im Verkauf

Im letzten work berichteten wir auf 6 Extra-Seiten über den Notstand im Detailhandel (rebrand.ly/krise-verkauf). 10 Verkäuferinnen von Aldi bis Migros packten aus: Sie sind am Limit, weil die Chefs «Stunden sparen». Diese Überlastung ist gewollt, wie die grosse work-Um­frage zeigt. Mit Computer-Algorithmen holen die Grossverteiler aus ­ihrem Personal ständig den maximalen Profit heraus, bei minimalen Kosten. Reserven sind nirgends eingeplant. Wird eine Mitarbeiterin krank, gerät das ganze System ins Wanken. Da gibt es schon mal Chefinnen, die befehlen: «Nehmen Sie doch ein paar Dafalgan!»

IRRSINN. So sei denn auch der zu knapp kalkulierte Personaleinsatz eines der Hauptthemen im Detail­handel, sagte Unia-Chefin Vania Alleva im work-Interview. Und erklärt die Krise: «Dieser Markt ist gesättigt.» Wachstum sei nur noch über die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten oder durch zusätzliche Verkaufs­flächen möglich. Tatsächlich weitete sich der Ladenöffnungs-Irrsinn seit den 1960er Jahren von Osten her stetig aus, wie die work-Chronik erstmals zeigt. Obwohl die Gewerkschaften und die Schweizer Stimmbevölkerung immer wieder Nein sagten. Denn: die Zeche bezahlten und bezahlen die Mitarbeitenden. Deshalb fordert Unia-Chefin Alleva jetzt den überfälligen Branchen-GAV.

GRÖSSENWAHN. Zusätzlich bedrängen Digitalisierung und Onlinehandelkonzerne wie Amazon und Zalando die Branche. Auch Gewerkschaftsfeinde wie der österreichische Möbelkonzern XXXLutz oder der Globus-Käufer René Benko werden in der Schweiz aktiv. Die grosse work-Recherche zeigt: Der vorbestrafte Gewerkschaftsfeind Benko erwirbt mit seiner Signa-Gruppe europaweit traditionelle Warenhauskonzerne – wenn sie über stattlichen Immobilienbesitz verfügen. Diese Immobilien interessieren Benko weit mehr als die Arbeitsbedingungen der Mitarbeitenden. (asz)

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