Der «Marseiller Frühling», eine breite links-ökologische Bewegung, hat unerwartet den ersten Wahlgang in der zweitgrössten französischen Stadt gewonnen – gegen ein uraltes, eng geflochtenes Machtsystem. Dann bremsten Präsident Emmanuel Macron und der Corona-Virus die Bewegung aus – vorläufig.
HOFFNUNGSTRÄGERINNEN UND HOFFNUNGSTRÄGER: Michèle Rubirola (vorne in der Mitte), bei der Präsentation der neuen Liste «Printemps marseillais», am 22. Februar 2020. (Foto: Getty)
Wahlbüro Félix Pyat im 3. Marseiller Arrondissement: Wild um sich schiessend, stürmen am 15. März drei maskierte Männer das Wahllokal. Sie haben es auf die Urne abgesehen. Menschen hechten unter Tische, die Frau eines Kandidierenden fällt in Ohnmacht. Desinfektionsmittel und Latex-Handschuhe helfen wenig gegen Kalaschnikows. Später stellt sich heraus, dass die Männer nur Plastikschrot verschossen haben. Die Urne taucht wieder auf, doch niemand weiss, ob sie noch die Originalwahlzettel enthält.
Am selben Morgen hatte eine Cyberattacke 300 Computer der Marseiller Wahlbehörde lahmgelegt. Die Maschinen sollten sicherstellen, dass keine Verstorbenen «wählten» oder Lebende zehnmal einlegten. Sie wären nützlich gewesen, die Computer. Denn in diversen Wahlbüros entdeckten Wahlbeobachterinnen und -beobachter der Bewegung «Printemps marseillais» («Marseiller Frühling») ein System mit gefälschten Resultatlisten.
Die Marseiller Herrschenden verlassen sich nicht gern auf die Demokratie. Dafür waren die Kommunisten lange zu populär. Bis in die 1960er Jahre entschieden manchmal die Maschinenpistolen darüber, wer als Bürgermeister ins Stadthaus am alten Hafen einzog. Seither werden Stimmen gern gekauft, gegen eine Sozialwohnung, einen Job bei der Stadt oder sonstige Gefälligkeiten. Das läuft unter «Klientelismus». Schon der Sozialist Gaston Defferre, ein glühender Antikommunist, regierte 33 Jahre über Marseille, indem er Tausende von Jobs im Service public an die Mitglieder der antikommunistischen Gewerkschaft FO vergab. Der gegenwärtige Amtsinhaber, der Rechte Jean-Claude Gaudin, wurde von derselben Gewerkschaft gerade zum Ehrenmitglied ernannt. Ein Vierteljahrhundert lang war Gaudin an der Macht. Jetzt galt als ausgemacht, dass ihn seine langjährige Mitarbeiterin Martine Vassal beerben würde. Sie ist bereits Präsidentin des Departementes und der Metropole. Doch es kam (vorerst) anders.
25 Jahre lang herrschte der rechte Bürgermeister Gaudin mit
Kumpanei, Klientelismus, Beton-
Spekulation und Misswirtschaft …
RUBIROLA ÜBERNIMMT
In diesem März war das politische Klima in Marseille besonders giftig. Das lag nicht nur an professionell gestreuten wüsten Gerüchten und Intrigen, etwa über einen angeblich Drogen dealenden Sohn einer Spitzenkandidatin, an den Schlägereien der Plakatkleber-Trupps, den Überfällen der Rechtsradikalen auf Parteibüros und den zahllosen Wahlfälschungen. Diesmal mischte auch Corona mit.
Bleierne Angst legte sich schon eine Woche vor dem Urnengang über die Stadt. Es war allen klar, dass man besser nicht zusammenstehen, in Sitzungen mit 50 oder 80 Leuten streiten, Tausende Flugblätter verteilen und an vielen Türen läuten sollte. Doch sie taten es trotzdem. Es lag eine Art Dringlichkeit in der Luft. Ein Fieber, das typisch ist, wenn sich eine lange Herrschaft ihrem Ende zuneigt. Das war keine Wahl wie die anderen.
Am wenigsten für die Leute vom «Marseiller Frühling», die sich um die Ärztin Michèle Rubirola gesammelt haben. Rubirola, eine dissidente Grüne, praktiziert in den armen Marseiller Nordquartieren. Zwei Jahre lang hatten elf linke Parteien, zahlreiche Bürgerbewegungen, die im Marseiller Leben eine besonders starke Rolle spielen, Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft und Gewerkschaften gerungen und gestritten, bis die Bewegung stand. Olivia Fortin, eine der Gründerinnen, sagt: «Es waren zwei aufreibende Jahre.» Sie hängte dafür ihren Job an den Nagel, ihre Lebenspartnerin unterstützt sie. Oft stand die junge Bewegung vor dem Auseinanderbrechen. Die Grünen scherten aus, ihr Spitzenkandidat hatte eigene Ambitionen. Doch, so sagt Fortin, «am Ende des Tages war immer der Wille stärker, 25 Jahre Bürgermeister Gaudin zu beenden». Sie sagt nicht «Gaudin», sondern Gaudinismus. Und meint damit, was Ärztin Rubirola so beschreibt: «Gaudins System von Kumpanei, Klientelismus, Beton-Spekulation, Misswirtschaft, Vernachlässigung der Bevölkerung».
Der «Printemps marseillais» gab sich ein eigenes Parlament und strenge demokratische Regeln. In 125 öffentlichen Versammlungen wurde ein Programm geschnürt. Man beschloss, 50 Prozent der Kandidierenden auf den acht Wahllisten (eine Liste für jeden Bezirk) müssten aus der Zivilgesellschaft stammen.
Das spiegelt das tiefe Misstrauen weiter Teile der Bevölkerung für Politiker, die auf die eine oder andere Weise im alten System eingebunden waren. Vorerst schob sich Benoît Payan, ein jüngerer sozialdemokratischer Berufspolitiker, als Spitzenkandidat in den Vordergrund. Nach wochenlangen Protesten der Basis trat er ins Glied zurück. Und Rubirola übernahm.
ENDLICH WEG! Marseilles Noch-Bürgermeister Jean-Claude Gaudin. (Foto: Getty)
DER DONNERSCHLAG
Als am Wahlabend die «Nacht der langen Messer» begann, versammelten sich rund 200 Leute im Wahllokal des «Printemps marseillais». Dicht gedrängt, in Hitze und Lärm, trotz Corona. Mutige hatten ein paar Kartons Corona-Bier angeschleppt. Alle wussten: Ab morgen ist Ausgangssperre. Die Schulen waren schon zu.
In den letzten Umfragen war die Bewegung rund sieben Punkte hinter Martine Vassal gelandet, der Erbin des Systems Gaudin. Die «Schneekönigin», wie Vassal in der Presse genannt wird, hatte wesentlich mehr Mittel und Leute zur Hand, und sie hatte diese für einen gnadenlos bösartigen Wahlkampf genutzt. Doch dann standen, eins ums andere, die Ergebnisse. In den frühen Morgenstunden war klar: Der «Marseiller Frühling» lag vorne. Vassal dahinter. Das rechtsextreme «Rassemblement national» von Marine Le Pen geschlagen.
Die Grünen: unter ferner liefen. Macrons Partei «La République en marche»: Riesenschlappe. Das Resultat war ein Donnerschlag für Marseille in Zeiten des Virus. In ihm hallte der Einsturz der Häuser in der Rue d’Aubagne am 5. November 2018 nach, der acht Menschen unter sich begrub. Und von allem, was seither geschah. Die Vertreibung von 3500 Personen aus ihren baufälligen Wohnungen, ohne dass Bürgermeister Gaudin und dessen rechte Hand Vassal sich ernsthaft um die Renovation und die Rückkehr der Mieterinnen und Mieter bemühten. Die Tatsache, dass unter den Mietwucherern dieser Häuser etliche Honoratioren der Stadt identifiziert wurden. Die extreme Polizeigewalt mit weiteren Todesopfern, die spekulative Zerstörung des Stadtzentrums als Versuch, «die halbe Bevölkerung zu vertreiben, weil Marseille etwas Besseres verdient hat als diese Leute» (so ein enger Berater Gaudins). Und die weitere Verarmung der halben Marseiller Bevölkerung.
… jetzt hat ihn die Protest-
bewegung «Marseiller Frühling»
weggefegt.
STADT DER MEDIZIN
Aïcha Sif, die Soziologin und frühere Theaterfrau, erkennt darin «eine neue Dynamik für Marseille und den ‹Marseiller Frühling›». Sif, Tochter marokkanischer Eltern, hatte dem Journalisten vor vier Jahren in den Notizblock diktiert: «Diese Stadt ist ein grosses Laboratorium für das Zusammenleben, für die gesellschaftlichen Entwicklungen in Europa und sogar für neue Formen von Demokratie.» Heute ist die parteilose Vertreterin einer sozialen Ökologie die Kandidatin des «Marseiller Frühlings» im 9. und im 10. Arrondissement. Ein riesiges Gebiet, flächenmässig so gross wie Paris. Nicht besonders arm, aber fürchterlich vernachlässigt. Keine einzige Kultureinrichtung. Kaum öffentlicher Verkehr. 300 000 Menschen ohne Notfallklinik.
Die Nummer zwei auf Sifs Liste für den Bezirk heisst Anthony Gonçalves. Der Medizinprofessor ist einer der führenden Krebsspezialisten des Landes und Kommunist. Gonçalves arbeitet mit dem Team des Infektiologen Didier Raoult zusammen, das jetzt eine Therapie gegen Covid-19 sucht. Dieser Tage beendeten sie erfolgreiche Tests mit dem Malaria-Mittel Chloroquin. Zuerst von den Pariser Grössen abgewimmelt, setzen jetzt immer mehr Ärztinnen und Ärzte in der ganzen Welt auf die Marseiller Ergebnisse.
Völlig übermüdet, aber sehr ruhig erzählt Gonçalves von den üblen Zuständen in den Marseiller Spitälern, die seit Jahren von Präsident Macron und den Vorgänger-Regierungen ihrer Mittel beraubt wurden. Aber ich höre keine Klage: «Wir werden alles tun und das Richtige tun, um möglichst viele Menschen zu retten.» Und dann erzählt er von der Ambition, die ihn, die fast 2000 Ärztinnen und Ärzte und die 14 000 Pflegenden der öffentlichen Marseiller Spitäler antreibt. Er tönt es nur an, aber Aïcha Sif macht daraus Klartext: «Marseille war immer eine Stadt der Medizin. Wir wollen, dass hier der Weg gefunden wird, den Corona-Virus zu stoppen. Das ist der Geist des ‹Marseiller Frühlings›: Wir wollen uns um die Menschen kümmern. Wir wollen sie schützen.»
Politisch werden sich Sif, Rubirola, Fortin und die vielen anderen der jungen Bewegung allerdings noch gedulden müssen. Der zweite Wahlgang wurde verschoben. Bürgermeister Gaudin bleibt vorerst im Amt.
Nur ein besonders simples und faktenunbelecktes Müsterchen für die Art und Weise, wie in diesem Text die Realität zurechtgebogen wird, bis sie den eigenen Vorurteilen entspricht und zur schlichten Heldenerzählung von den hehren und sich nicht einmal beklagenden Kommunisten gefügt werden kann:
„Dieser Tage beendeten sie erfolgreiche Tests mit dem Malaria-Mittel Chloroquin. Zuerst von den Pariser Grössen abgewimmelt, setzen jetzt immer mehr Ärztinnen und Ärzte in der ganzen Welt auf die Marseiller Ergebnisse.“
Jaja, gewiss, abgewimmelt von „Pariser Grössen“, aus lauter Bösartigkeit offenbar. Chloroquin, Chloroquin..? War das nicht das Wundermittel, das Donald Trump gewohnt grosskotzig lobte, das sich dann aber zur Schadenfreude aller Linken nicht wirklich durchsetzte? Wegen der Abwimmelei von Pariser Grössen?