Der Frauenstreik am vergangenen 14. Juni war fulminant. Doch wie kam es dazu? Und was kam danach? Ein neues Buch gibt erste Antworten.
LOHN. ZEIT. RESPEKT. Am 14. Juni 2019 waren mehr als eine halbe Million Frauen und solidarische Männer auf der Strasse. Der Kampf geht weiter. (Foto: Monika Flückiger / Freshfocus)
Hunderttausende Frauen strömten am 14. Juni 2019 auf Strassen und Plätze, protestierten mit Kreativität und unbändiger Macht. Für mehr Zeit, Geld und Respekt. Hinreissend, mitreissend, besser als ein Traum.
DER ZÜNDENDE MOMENT
Jetzt, rund elf Monate später und pünktlich zum 1. Mai, erscheint eine erste Frauenstreik-Dokumentation. Herausgegeben vom Verlag der sozialistischen Zeitung «Vorwärts».
Das Buch folgt den Spuren des zweiten Frauenstreiks, von seinen Anfängen bis zum 14. Juni und darüber hinaus. Es ist ein Blick hinter die Kulissen. Eine Zeitreise durch einen monatelangen Entstehungsprozess, in dem die unterschiedlichsten Frauen in den Streikkomitees nicht nur aufeinandertrafen. Sondern auch zueinanderfanden. Weil sie es schafften, «trotz den vorhandenen Unterschieden das Gemeinsame ins Zentrum zu rücken», wie Mitautorin Rita Maiorano im Vorwort schreibt. Dieser gemeinsame Wille war der Schlüssel zum Frauenstreik. Die gemeinsame Wut war der Zünder.
Und diese Wut ist gross, als im Januar 2018 zum ersten Mal wieder das Wort «Frauenstreik» fällt. Das war am 13. Frauenkongress des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB). Die Teilnehmerinnen sind hässig. Das Parlament hat dem neuen Gleichstellungsgesetz jeden Zahn gezogen. Die Durchsetzung der Lohngleichheit einmal mehr verhindert. Die Gewerkschafterinnen beschliessen, «für die Respektierung des Verfassungsgesetzes zu kämpfen», notiert «Vorwärts»-Redaktorin Sabine Hunziker dazu.
Die gemeinsame Wut der Frauen war der Zünder.
STREIKEN, ABER WIE?
Und dann, im Frühsommer, beschliessen die Frauen in der Westschweiz tatsächlich den Streik. Die Deutschschweizerinnen horchen auf. Und als Ende September das erste nationale Frauenstreik-Treffen in Zürich stattfindet, gibt es schon in allen Landesteilen (partei)unabhängige Komitees.
Vor allem zwei Fragen beschäftigten die Streikfrauen in dieser Phase. «Wie streiken wir?» lautet die erste. Denn mittlerweile ist klar: Der Frauenstreik ist kein «klassischer» Streik. Weil es neben niedrigen Frauenlöhnen und Renten auch um die unbezahlte Care-Arbeit geht, die vor allem Frauen schultern. Und um sexuelle Belästigung und Gewalt gegen Frauen. Also werden kreative, unkomplizierte Streikformen ersonnen.
DER STREIK HALLT NACH
Am 1. Dezember beschliesst der SGB-Kongress offiziell, zum Frauenstreik aufzurufen. «Stellen wir eine Hauptforderung?» lautet die zweite Frage. Die Frauen entscheiden sich dagegen. Alle Anliegen sollen Platz haben, keines über den anderen stehen.
Über eine halbe Million Menschen bringen am 14. Juni die Schweiz zum Beben. Es ist der Höhepunkt der Frauenmobilisierung. Aber nicht das Ende. Als SP-Bundesrat Alain Berset am 1. August in Yverdon-les-Bains ans Rednerpult tritt, ist da ein lautes Schweigen. Die Frauen im Publikum stellen sich gegen Bersets Plan, das Frauenrentenalter zu erhöhen. «Da zieht eine kleine Wolke vorbei …», soll Berset über den Frauenprotest gesagt haben. «Vorwärts»-Redaktorin Hunziker scheibt: «Auch kleine Wolken können sich zu einem grossen Gewitter zusammenballen.»
Am 20. Oktober donnert es dann, und zwar gewaltig: Bei den eidgenössischen Wahlen erobern die Frauen 42 Prozent aller Sitze im Nationalrat. 10 Prozent mehr als bisher, so viele wie noch nie. Und immer wieder organisieren Frauen Strassenaktionen: gegen Morde an Frauen, Lohndiskriminierung, Gratisarbeit und Gewalt.
Am 14. Dezember knallen die Korken. Sechs Monate sind seit dem fulminanten Streiktag vergangen. In Grenchen SO treffen sich rund 80 Frauen aus zwölf Regionen, um neue Pläne zu schmieden. Damit endet der chronistische Teil des Frauenstreikbuchs.
Doch die Geschichte wird weitergeschrieben.
«Streikfrauen des Vorwärts»: Frauen*streik 2019 – das Buch. Mit gesammelten Berichten, Streikmanifesten und Plakaten. Verlagsgenossenschaft «Vorwärts», Zürich 2020, 258 Seiten, CHF 35.–. Bestellung über: www.vorwaerts.ch.
Frauen im Fokus: Auch im neuen Widerspruch-Heft
Noch mehr Lesestoff zum Frauenstreik gibt’s im neuen «Widerspruch». Das Heft vertieft die Hintergründe der aktuellen Frauenbewegung, reflektiert Erfahrungen vom vergangenen 14. Juni und fragt: «Wohin geht es?». Mit Beiträgen von über fünfzig Autorinnen und Autoren. Zum Beispiel Unia-Frau Anne Rubin über die gewerkschaftliche Organisierung im Detailhandel. Dazu: eine Extraeinlage über feministische Klassikerinnen früher und heute. Der «Widerspruch» kostet 25 Franken und kann bestellt werden unter: www.widerspruch.ch.
FOTOBAND. Noch mehr in Buchform gibt es am 14. Juni. Dann erscheint der
Fotoband «WIR». Eine Sammlung von Frauenstreik-Bildern, die von Fotografinnen in der ganzen Schweiz aufgenommen wurden. Ins Leben gerufen hat das Projekt unter anderem die Berner Fotografin Yoshiko Kusano (work berichtete: www.rebrand.ly/darumstreikensie).