Der Bundesrat hat die Suva beauftragt, den Corona-Schutz auf dem Bau zu überwachen. Doch es fehlt massiv an Personal.
ANSTECKUNGSGEFAHR: Sieben von über 4000 Meldungen von Regelverstössen auf Schweizer Baustellen, die bei der Unia eingegangen sind. (Fotos: ZVG)
Ende März druckte der «Zürcher Oberländer» ein Interview ab, wie es in Schweizer Zeitungen nur noch selten zu finden ist. Denn für einmal hatte nicht ein hohes Tier aus der Politik das Wort, sondern ein Arbeiter – nämlich der Zürcher Maurer Marco Lehnherr *. Er wurde gefragt, ob er auf seiner Baustelle die Regel «Nie mehr als fünf Personen zusammenstehen» einhalten könne. Antwort: «Nein.» Und die zwei Meter Abstand zwischen diesen Personen? «Unmöglich.» So wie Lehnherr geht es Tausenden Baubüezern. Bei der Unia sind innert zwei Wochen über 4000 detaillierte Meldungen über Regelverstösse eingegangen – allesamt vom Bau. Lehnherr spricht für viele, wenn er sagt: «Baustellen sind die grössten Virenschleudern.» Und: «Die Sicherheit kümmert die Mächtigen nicht, solange es Geld zu scheffeln gibt.»
Die Suva hat nicht mehr Kontrolleure als vor Corona.
NUR 25 KONTROLLEN AM TAG
Was aber ist mit den Baustellenkontrollen? Schliesslich hatte der Bundesrat die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) damit beauftragt, den Corona-Schutz auf dem Bau zu untersuchen. Lehnherr: «Bisher war noch kein Mensch da, um unsere Baustelle zu überprüfen.» Auch mit dieser Feststellung ist der Maurer nicht allein. So sagt Arno Russi, Sektionsleiter der Unia Rhätia-Linth, über die Suva-Kontrollen: «Da geht viel zu wenig!» Und aus dem Jura meldet Unia-Sekretär François-Xavier Migy sogar: «Suva-Kontrollen gibt es hier praktisch nicht.» Wen wundert’s? Im ganzen Kanton Jura arbeitet nur ein einziger Suva-Kontrolleur. Und der ist auch noch für den Berner Jura und den Kanton Neuenburg zuständig. Wenig besser ist die Situation im Wallis. Im Riesenkanton kontrollieren zwei Suva-Mitarbeitende. Wie steht die Suva dazu? Sprecher Adrian Vonlanthen sagt, schweizweit seien 28 Kontrolleure im Dienst. Das seien nicht mehr als noch vor der Corona-Krise. Kaum genug also, um den wichtigen Bundesauftrag zu erfüllen. Schliesslich arbeiten im Schweizer Baugewerbe rund 350’000 Personen, davon die Mehrheit auf Baustellen. Und tatsächlich: Vom 13. März bis zum 2. April seien erst «rund 350 Baustellen» kontrolliert worden, schreibt Edith Müller von der Suva-Geschäftsleitung auf Anfrage. Damit habe man das Ziel nicht erreicht. Kein Wunder bei dieser Quote von nur 25 Baustellen pro Arbeitstag!
ARBEITSINSPEKTORATE HELFEN
Wenig erstaunlich auch, dass unter diesen Umständen die Deutschschweizer Kantone erst eine Handvoll Baustellen schliessen mussten. Ganz im Unterschied zur Westschweiz und zum Tessin, wo die Baustellen längst mehrheitlich stillstehen. Das hatte dort nicht nur die Unia gefordert, sondern auch viele besorgte Firmen und sogar die Baumeisterverbände der Kantone Genf, Freiburg, Waadt und Jura. Und im Unterwallis haben sich Politiker unterschiedlichster Couleur zusammengetan, um endlich den technischen Stop auf dem Bau zu erreichen. So auch Unia-Mitglied und SP-Nationalrat Mathias Reynard. Die Walliser Regierung reagierte prompt: Noch nicht mit einem Baustopp zwar, aber immerhin mit Hilfe für die Suva, die seither von mehreren kantonalen Arbeitsinspektoren unterstützt wird. Nach Gewerkschaftsprotesten hat sich auch der Kanton Jura bewegt. Dieser stellt neuerdings ganze sieben eigene Kontrolleure. Doch das ist in der Schweiz noch immer eine seltene Ausnahme, wie eine work-Umfrage bei den Kantonen zeigt. Das extreme Gegenbeispiel ist ausgerechnet Zürich, der bevölkerungsreichste Kanton: Das Arbeitsinspektorat hat den Aussendienst am 13. März komplett eingestellt. Kontrollen «hinsichtlich der Hygiene und Distanz» fänden nur statt, wenn eine Meldung vorliege, teilt das Amt für Wirtschaft und Arbeit mit.
Roche-Baustelle: Entlassener Logistiker wehrt sich
Adrian Kaufmann vor der Roche-Baustelle. (Foto: ZVG)
Eines Morgens hatte Logistiker Adrian Kaufmann * (42) genug. Er zückte sein Handy und machte ein Foto von seinem Arbeitsplatz – der Basler Mega-Baustelle für das zweite Hochhaus des Pharmakonzerns Roche. 400 Arbeiter kommen dort zu Spitzenzeiten zusammen. Kaufmanns Foto zeigt eine Standardsituation vor Schichtbeginn: Auf einem eingezäunten engen Platz müssen an die 50 Büezer dichtgedrängt auf den Baustellenlift warten. Dabei hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) verordnet: Keine Ansammlungen über fünf Personen. Und immer zwei Meter Abstand zwischen den einzelnen. Unter solchen Umständen ein Ding der Unmöglichkeit. Doch Bauherrin Roche kümmerte das offenbar nicht.
FALL FÜR DIE JUSTIZ. Auch über eine Woche nach Inkrafttreten der Bundesverordnung zu der Corona-Bekämpfung nicht. Deshalb stellte Kaufmann sein Foto auf Facebook und machte die Zustände öffentlich. Er sagt: «Es ging mir um die Gesundheit von uns Arbeitern und um die meiner Mutter.» Sie gehört nämlich zu einer Hochrisikogruppe und ist zurzeit auf die Fürsorge ihres Sohnes angewiesen.
Am nächsten Tag dann der Skandal. Kaufmann erzählt: «Plötzlich stand der Baustellenleiter neben mir und erteilte mir Platzverbot.» Grund: Das Fotografieren auf der Roche-Baustelle sei verboten. Für den Logistiker eine schlechte Ausrede, denn: «Für meinen Chef musste ich auf der Baustelle immer wieder Situationen fotografieren.» Doch genau dieser Chef rief nun an und kündigte Kaufmann fristlos. Das akzeptiert dieser nicht. Mit Unterstützung der Unia wird Kaufmann gegen seine ehemalige Arbeitgeberin, die Mateco Schweiz GmbH, juristisch vorgehen und die Kündigung als missbräuchlich anfechten. Die Erfolgschancen stehen gut.
Das sagte an einer Medienkonferenz sogar Boris Zürcher, der Direktor für Arbeit beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Und er sagte zudem: «Es liegt auch an den Mitarbeitenden, auf Missstände hinzuweisen.» Genau das hat jetzt schon ein zweiter Arbeiter der Roche-Baustelle gemacht. Er hat der Unia ein Foto von Anfang April zugestellt. Es beweist: Der Sicherheitsabstand kann immer noch nicht eingehalten werden (siehe rebrand.ly/roche).
* Name geändert.