Anstatt Kurzarbeit anzumelden, stellen immer mehr Chefs ihre Mitarbeitenden auf die Strasse. Andere pfeifen auf die Hygieneregeln des BAG.
CORONA-SCHWEIZ. Die Bevölkerung zeigt sich solidarisch, so einige Chefs allerdings nicht. Immer mehr stellen Mitarbeitende auf die Strasse. Andere pfeifen auf Sicherheitsmassnahmen. (Foto: Getty)
Für die rund zwölf Plattenleger der Firma Kerastone in Flawil SG gibt es keine Kurzarbeit. Am 30. März teilte ihnen der Chef mit, wegen der Corona-Krise habe die Firma kein Geld mehr. Er werde Konkurs anmelden, die Mitarbeitenden seien alle per sofort entlassen. Dabei hatte der Bundesrat auf Druck der Gewerkschaften das Instrument der Kurzarbeit erweitert und massiv vereinfacht. Damit sollen Stellen gerettet werden. Ein Erfolg: Bisher haben die Betriebe für knapp 1,5 Millionen Mitarbeitende Kurzarbeit beantragt.
Entlassungen wie bei der Kerastone sind kein Einzelfall, wie die neuesten Berechnungen des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) zeigen: Die Arbeitslosigkeit ist seit Ende Februar von 2,5 auf 3,1 Prozent hochgeschnellt – ein noch nie gesehener Anstieg in so kurzer Zeit. Daniel Lampart, SGB-Chefökonom: «Der Bund hat die Kurzarbeit stark geöffnet. Dass nun immer noch zahlreiche Arbeitgeber Leute entlassen, ist inakzeptabel.»
Nicht nur das. Immer noch erreichen die Unia täglich Hunderte von Meldungen, wonach Firmen den Schutz ihrer Mitarbeitenden nicht oder nur zögerlich umsetzen. Ein paar Beispiele:
Statt die Masken fortzuwerfen, müssen die Pflegenden sie zu Hause trocknen lassen.
IN DER PFLEGE
In der Pflege In mehreren Altersheimen häufen sich die Corona-Fälle. Aber viele Heime haben zu wenig Masken für ihre Mitarbeitenden. Ein grobes Versagen, sagt Samuel Burri von der Unia: «Laut Pandemieplan des Bundes hätte jedes Heim einen Maskenvorrat von drei Monaten anlegen sollen. Viele haben das verschlampt.»
Eine Pflegeperson, die eine Hygienemaske trägt, muss diese normalerweise nach zwei Stunden entsorgen. Ein Altersheim im Kanton Bern gab seinen Pflegenden aber nur gerade je fünf Masken ab. Zusammen mit einer Weisung: Bevor sie das Heim betreten, müssen sie eine Maske anziehen, diese den ganzen Tag tragen und nach Gebrauch zu Hause trocknen. «Wenn alle Masken gebraucht wurden, beginnt man wieder mit der ersten.» Für Burri eine unhaltbare Regelung: «Wenn es im Heim einen Corona-Fall gibt, bringen die Pflegenden so den Virus mit nach Hause.»
In einigen Freiburger Heimen behelfen sich die Pflegenden laut «Sonntagszeitung» mit Skibrillen, weil es zu wenig Schutzbrillen gibt. Vielerorts ist zudem das Personal zu knapp geplant. In der Westschweizer Zeitung «Le Temps» berichtet eine Pflegerin, in ihrem Heim seien rund 30 der 97 Bewohnerinnen und Bewohner an Corona erkrankt. Trotzdem seien in der Nacht gerade mal eine Pflegefachfrau und drei Pflegehelferinnen im Einsatz.
IM DETAILHANDEL
In den Betrieben der Valora (K-Kiosk, Avec, Brezelkönig) gab es wochenlang weder Plexiglasscheiben zum Schutz der Verkäuferinnen noch Desinfektionsmittel. Anne Rubin von der Unia: «Noch Anfang April gab es Verkaufsstellen ohne Plexiglasscheiben – Valora hat die Massnahmen sehr unprofessionell umgesetzt.» Auch Denner, Aldi und Otto’s hätten zu lange gebraucht, um ihre Mitarbeitenden zu schützen.
In der Ostschweiz wollte ein Kunde der Ladenkette Radikal-Liquidationen partout nicht akzeptieren, dass er Artikel aus dem Non-Food-Sortiment nicht kaufen konnte. Er bedrängte eine Verkäuferin trotz deren Bitte, den Abstand von zwei Metern einzuhalten. An der Kasse spuckte er die Frau sogar an, berichtet Danijela Basic von der Unia: «Der Geschäftsführer stellte sich zwar hinter die Verkäuferin, doch die Personalabteilung teilte ihr mit, der Kunde habe sich beschwert.»
«Zwei Meter Abstand halten auf der Baustelle, das ist gar nicht möglich, das schaffst du nicht.»
AUF DEM BAU
In Freiburg blockierten Arbeiter mit Unterstützung der Unia kurzzeitig eine Baustelle der Implenia. Unia-Mann Armand Jaquier: «Die Vorschriften des BAG wurden in mehreren Punkten nicht eingehalten.» Allein im Wallis wurden der Unia 283 Verstösse gegen diese Vorschriften gemeldet.
Zwei Meter Abstand halten auf der Baustelle, das sei gar nicht möglich, sagt Bauarbeiter Mario Weber * gegenüber work: «Das schaffst du nicht.» Der 35jährige berichtet, einer seiner Arbeitskollegen sei kürzlich nicht mehr zur Arbeit erschienen. «Wir erfuhren dann, dass er Corona hat. Das war schon ein komisches Gefühl.» Die Bauarbeiter seien verunsichert, sagt er: «Wie sollen wir reagieren? Habe ich den Virus vielleicht auch und merke es einfach nicht? Habe ich schon meine Freundin angesteckt?»
IN DER LOGISTIK
Bei der Firma Tony Transport, die für Conforama Möbel ausliefert, sitzen immer zwei Mitarbeiter in der Kabine des Lastwagens. Abstand? Fehlanzeige, sagt Aymen Ben Hadj von der Unia Waadt: «Möbel sind eindeutig nicht Dinge des täglichen Gebrauchs. Trotzdem verlangt die Firma von ihren Beschäftigten, dass sie weiterarbeiten.»