Ob Spanische Grippe oder Coronavirus: «Infektionskrankheiten treffen nie alle sozialen Schichten gleich», sagt der Zürcher Geschichtsprofessor Flurin Condrau. Dabei habe jeder Mensch ein Recht auf Gesundheit.
NOTSTAND IN ITALIEN: Ein Patient wird in die Intensivstation eines Spitals in Mailand gebracht. (Foto: Keystone)
work: Sars, Schweine- und Vogelgrippe, Ebola und jetzt das neue Coronavirus. Täuscht der Eindruck, oder kommt es tatsächlich immer häufiger zu Viren-Epidemien?
Flurin Condrau: Nein, dieser Eindruck täuscht nicht. Seit den späten 1980er Jahren geht man in der Forschung von einem Wiederaufflackern von Infektionen aus. Bis zum Jahr 2000 handelte es sich mehrheitlich um aussereuropäische Erscheinungen. Doch mit Sars, der Vogel- und der Schweinegrippe kamen die neuen Epidemien auch in den westlichen Industrienationen an.
Medizinhistoriker Flurin Condrau.
Als Folge eines globalisierten Kapitalismus?
Das wäre mir eine zu steile Hypothese. Aber sicher muss man über die Rolle der pharmazeutischen Grossindustrie sprechen. Diese investiert dort, wo sie Profit erwartet. Und zumindest bis vor kurzem konnte man mit der Impfstoffentwicklung nicht viel Geld verdienen. Und mit der Bekämpfung von Viren der Zukunft auch nicht. Den Hauptfaktor sehe ich aber in dem, was ich die therapeutische Revolution nenne.
Therapeutische Revolution?
Nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierte sich die Wissenschaft vor allem auf chronische Krankheiten wie Rheuma, Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Auf diesen Gebieten gab es riesige Fortschritte. Krebs im Kindesalter – heute weitgehend behandelbar – galt zum Beispiel noch bis in die 1960er Jahre als Todesurteil. Doch gleichzeitig gerieten Infektionskrankheiten aus dem Fokus. Man dachte nämlich, dieses Thema sei abgehakt, da man nun ja spezifische Medikamente entwickelt hatte. Antibiotika etwa gegen die Tuberkulose.
Aber das Thema war nicht abgehakt?
Nein, aber weit weg, in den Ländern des globalen Südens, wo noch heute jährlich über eine Million Menschen an Tuberkulose sterben. Jetzt, mit dem Wiederaufflackern der Infektionskrankheiten auch bei uns, wird plötzlich klar: Es gibt eine ganze Reihe von Krankheiten, die noch unbehandelbar sind. Das hat die therapeutische Medizin lange vergessen.
Vergessen war auch die Spanische Grippe, die von 1918 bis 1920 Millionen Todesopfer forderte?
Weitgehend. Aber das ist wenig erstaunlich. Denn unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg dominierte die Erinnerung an die «Urkatastrophe» – den Krieg. Und die politischen Folgen des Kriegs beherrschten ja die gesamte Zwischenkriegszeit und waren zumindest teilweise verantwortlich für den Aufstieg des Nationalsozialismus. Aber auch die Geschichtsschreibung interessierte sich lange nur für die «grosse Politik» und nicht für die Erfahrungswelten der Bevölkerung, ihren Alltag oder ihre Gesundheit.
Lässt sich die Spanische Grippe überhaupt mit dem Coronavirus vergleichen?
Nur bedingt. Als die Spanische Grippe wütete, wusste die Welt noch nichts von Viren. Ihre Existenz konnte erst 1935 bewiesen werden. Zudem trat die Grippe genau dann auf, als der Erste Weltkrieg gerade beendet wurde. Das ist eine ganz andere Ausgangslage als heute. Die Menschen waren durch den Krieg und die damit verbundene Versorgungskrise ja schon geschwächt.
«Die jetzige Krise ist auch eine Konsequenz gescheiterter globaler Gesundheitspolitik.»
Aber es gibt Parallelen: 1918 liefen die Fabriken einfach weiter. Und auch heute
baut und produziert die Schweiz munter weiter. Und die SVP möchte die Läden
und Restaurants am liebsten schon nach Ostern wieder öffnen.
Ich verstehe, dass Unternehmen, die vor einer fundamentalen Krise stehen, baldige Massnahmen fordern. Aber wenn man jetzt schon diskutiert, wie man den Alltag möglichst rasch wiederherstellen könnte, vermittelt das ein völlig falsches Sicherheitsgefühl. Es signalisiert, das Schlimmste sei schon vorbei. Sicher müssen Ausstiegsstrategien verhandelt werden. Deshalb braucht es auch unbedingt eine Fortsetzung des Parlamentsbetriebs. Eine Parallele von Covid-19 zu der Spanischen Grippe sehe ich aber in der ungleichen Betroffenheit der Bevölkerung.
Sie meinen das Alter als Risikofaktor?
Nicht nur. Aus Spanien weiss man, dass die Arbeiterquartiere von Corona schwerer betroffen sind als die Mittelstands- und Oberschichtsquartiere. Wenn man genau hinsieht, erkennt man: Das Virus respektiert die Klassengrenzen.
Aber das Virus kann doch alle treffen …
… aber es wäre das erste Mal, dass eine Infektionskrankheit alle sozialen Schichten gleichermassen betrifft. Nehmen Sie Italien mit seinem kaputtgesparten Gesundheitswesen. Oder jene Menschen, die nur Schwarzarbeit leisteten und deshalb jetzt keine Kompensationen erhalten. Oder das afrikanische Land Malawi: Es hat 15 Millionen Einwohner und 25 Intensivbetten! Das Virus wirkt wie ein Brennglas, in dem die Ungleichheit sichtbar wird.
Der französische Präsident Emmanuel Macron erklärte dem Virus den «Krieg», was sagen Sie zu diesem Vergleich?
Das ist eine sehr gefährliche Redensart, weil die Kriegsmetapher erstens nur für den Nationalstaat Sinn macht und weil sie zweitens einen handlungsfähigen Gegner unterstellt. Die notwendige globale Kooperation geht dabei vergessen. Zudem führt diese Sprache zur Ausgrenzung der Kranken und zu Schuldzuweisungen. Aber klar: Wäre ich zum Beispiel Präsident der USA und müsste vertuschen, dass ich in den letzten Monaten bezüglich Corona im Tiefschlaf gesteckt habe, würde ich auch die Kriegsrhetorik hervorholen. Das täuscht Handlungsfähigkeit vor. Trump hat übrigens als eine seiner ersten Amtshandlungen dem Zentrum für Seuchenkontrolle und Prävention (CDC) die Mittel gekürzt und Personal entlassen.
Und Trump spricht nur vom «Wuhan-Virus».
«Die Asiaten» werden schon seit 150 Jahren für praktisch jede Infektionskrankheit verantwortlich gemacht. Das hat viel mit Rassismus zu tun. Die Suche nach Sündenböcken ist aber noch älter. Für die Pest machte man im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit die Juden verantwortlich. Es wurde behauptet, sie hätten die öffentlichen Brunnen vergiftet – eine Verschwörungstheorie, die auch in Schweizer Städten immer wieder zu blutigen Judenpogromen führte. Im Zuge der Cholera-Pandemie der 1830er Jahre waren es dann ausgerechnet Ärzte, die verfolgt wurden. Ihnen warf man vor, sie wollten mit der Cholera bloss über mehr Menschenkörper verfügen, um ihre Experimente durchzuführen.
Frei nach der Logik «Das Böse sind immer die anderen» – und wir sind lieb, rein und gut?
Ja, leider sind in Krisenzeiten auch vermehrt nationalistische Töne zu hören. Aber jede Pandemieplanung, die an den Grenzen des Nationalstaates Halt macht, wird scheitern müssen. Eigentlich sagte es die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereits 1978 klipp und klar: Jeder Mensch hat ein Recht auf Gesundheit. Deshalb müsse auch jedes Land ein belastbares Gesundheitswesen haben. Doch dieses WHO-Programm kam schon in den 1980er Jahren unter Druck. Zum Beispiel von der Weltbank oder der Pharmaindustrie, die möglichst viele Medikamente verkaufen wollten und darum direkte Interventionen gegen einzelne Krankheiten favorisierten. Und die Medikamentennachfrage ist nun mal höher, wenn die ärztliche Versorgung tief ist. Gegen solche Interessen konnte sich die WHO nicht durchsetzen. Die jetzige Krise ist auch eine Konsequenz gescheiterter Gesundheitspolitik. Deshalb muss die Staatengemeinschaft jetzt auf globaler Ebene in die Pflicht genommen werden.
Flurin Condrau (54) ist Professor für Medizingeschichte am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich. Bis 2011 lehrte der Zürcher mit Bündner Wurzeln an Universitäten in München, Sheffield und Manchester.