Jean Ziegler
Montag, 23. März: Der elegante Privatbankier Emmanuel Macron, seit dem Mai 2017 Präsident der Französischen Republik, hält am Fernsehen eine überraschende Rede: «Wir sind im Krieg!» Macron wiederholt den Satz fünf Mal in zwanzig Minuten.
Der Krieg gegen das mörderische Coronavirus in Europa und auf der ganzen Welt ist längst nicht gewonnen. Nehmen wir Frankreich. Jeden Abend geben die Sprecherinnen und Sprecher der Tagesschau die Opferzahlen durch. Bisher starben schon mehr als 25’000 Menschen (Stand: 13. Mai).
NEOLIBERALE GESUNDHEITSPOLITIK. Die schleichende Privatisierung der öffentlichen Gesundheitsfürsorge und die neoliberale Sparpolitik sind in den meisten Staaten verantwortlich für das Massaker.
Im letzten Jahr streikten in Frankreich während fünf Wochen die Ärztinnen und Ärzte, die Krankenschwestern und Logistikangestellten der Intensivstationen in den Spitälern gegen ihre völlig ungenügenden Saläre. Ein diplomierter Pfleger in Paris verdient 1400 Euro im Monat, Assistenzärztinnen kaum viel mehr. Damit kann im urbanen Milieu niemand vernünftig überleben. Aber Macron verweigerte jegliche Lohnerhöhung. Die neoliberale Gesundheitspolitik produzierte schlimme Folgen: Massenweise fehlen Betten und Apparate zur künstlichen Beatmung in den Intensivstationen. (Deutschland, Belgien, Luxemburg und die Schweiz nahmen glücklicherweise schwerkranke französische Corona-Patienten auf.) Lebenssichernde Medikamente mussten erst aus Indien importiert werden. Masken kamen aus China.
Wann die Seuche abebbt und wie viele Menschen noch sterben müssen, auch in der Schweiz, ist unbekannt. Sicher ist, dass radikale Reformen überall in Europa, auch in der Schweiz, durchgeführt werden müssen, wenn endlich der «Krieg» gewonnen ist.
Der Imperativ heisst jetzt Deglobalisierung.
DER NEUE IMPERATIV. Der Gesundheitssektor muss zum strategischen Sektor – genau wie die militärische Landesverteidigung – erklärt werden. Der Staat muss seine richtungweisende Kompetenz zurückgewinnen und massiv in den Gesundheitssektor investieren. Die bislang praktizierte Sparpolitik hat sich als katastrophal erwiesen. Staatsschulden müssen notfalls massiv erhöht werden. Im Pharmasektor muss der Staat eingreifen, mit Kapitalbeteiligung und wenn nötig durch Verstaatlichung. Die Produktion der wichtigsten Medikamente und medizinischen Instrumente muss in die europäischen Verbraucherländer zurückgeführt werden. Der Imperativ heisst: Deglobalisierung.
Heisst das, dass die Menschen nach der Seuche die neoliberale Wahnidee verwerfen werden? Dass in Deutschland eine rot-rot-grüne Koalition die Regierung übernimmt? Dass 2022 in Frankreich Jean-Luc Mélenchon zum Präsidenten gewählt wird? Dass in ganz Europa der Aufstand der Massen den Übergang zum demokratischen Sozialismus verlangt? Die Bedingung ist der Aufstand des Gewissens. Bertolt Brecht zeigt den Weg:
«Es wird der Tag, doch wann er wird,
Hängt ab von mein’ und deinem Tun.
Drum wer noch nicht mit uns marschiert,
Der mach sich auf die Socken nun.»
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein neustes Buch ist: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten.
Nach der heutigen detaillierten FAZ-Analyse von Zieglers Buch über die Situation auf Lesbos ist der Mann für jeden mitdenkenden Zeitgenossen vollständig erledigt.
Ein Kommentar ohne Inhalt, kennt man ja nun schon seit ein paar Wochen. Hauptsache: erledigt