Spannender kann Geschichte nicht erzählt werden: Anhand von Schicksalen aus dem Thurgau erzählt Stefan Keller eine kleine Weltgeschichte des Arbeitens – und setzt neue Massstäbe.
CHRAMPFERINNEN: Textilarbeiterinnen im Thurgau. Historische Fotos von arbeitenden Leuten sind selten. Meistens posieren sie, damit das Bild nicht verwackelt. (Foto: ZVG)
Der Name des Knaben, dem der Oberkiefer herausfiel, ist unbekannt. Klar ist nur, dass er um 1860 in der Zündholzfabrik des Herrn Moor in Arbon arbeitete. Und dass der herausfallende Oberkiefer kein Unfall war, sondern mit dem Phosphor zu tun hatte. Diesen hochgiftigen Stoff braucht es zum Herstellen der Zündhölzer. Der Junge litt an einer Krankheit namens Phosphornekrose. Autor und Historiker Stefan Keller schreibt in seinem neuen Buch «Spuren der Arbeit»: «Die Kiefernekrose ist eine schwer vorstellbare, extrem schmerzhafte, irreversible Katastrophe.» Die Krankheit des Jungen sei kein Einzelfall. Arbeiterinnen und Arbeiter in Zündholzfabriken hätten immer wieder berichtet, wie der Phosphor zunächst Kopfweh verursache, dann die Zähne ausfallen lasse und schliesslich die Kieferknochen zerstöre.
Wer das liest, weiss, was Kinderarbeit bedeutet.
KINDERARBEIT
Kann man so Geschichte erzählen? Ja, genau so muss sie erzählt werden, findet Keller. Dadurch, dass man nah an die Menschen herangeht. An die Menschen, die Geschichte machen, indem sie sie erleiden. Am Beispiel des namenlosen Jungen mit dem herausfallenden Oberkiefer erzählt er die schreckliche Geschichte der Kinderarbeit im 19. Jahrhundert. Wer das liest, wird nie mehr vergessen, was Kinderarbeit wirklich bedeutete und – in Teilen der Welt – noch heute bedeutet.
Keller geht in seinem neuen Buch der Geschichte der arbeitenden Menschen im Kanton Thurgau nach. Doch seine Reportage reicht weit über den Thurgau hinaus. Denn Keller weiss im Besonderen das Allgemeine zu sehen. Und so wird aus einem vermeintlich thurgauischen Thema plötzlich eine kleine Weltgeschichte der Arbeit. In der Tradition von Niklaus Meienbergs historischen Reportagen sichert Keller dank unermüdlichem Sammeln von Fotos, Zeugnissen und Berichten die Spuren der einfachen Menschen, die selbst nie Zeugnisse hinterlassen haben und daher in der herkömmlichen Geschichtsschreibung gar nicht existieren.
Zum Beispiel Rosa Fisch. Sie arbeitet um 1900 in einer Fabrik in Romanshorn an einer Färbmaschine. Ihr Ärmel wird vom laufenden Zahnradtriebwerk erfasst. Der ganze rechte Arm und Teile der linken Hand bleiben zerquetscht zurück. Der Patron will nur bedingt für den tragischen Unfall aufkommen, obwohl Fisch nie mehr arbeiten kann. Ihr Vater prozessiert bis vor Bundesgericht. Dort erhält Rosa Fisch vollumfänglich recht. Kellers Schilderung dieses Falls macht klar, wieso 1918 eine staatliche Unfallversicherung und viel später auch eine Invalidenversicherung entstand. Der soziale Schutz fiel eben nicht vom Himmel, sondern war das Ergebnis beherzter Kämpfe, wie sie Rosa Fisch ausgefochten hat.
Autor Keller sieht sich als Spurensicherer: «Von den meisten Leuten, die ein Leben lang arbeiten, weiss man am Ende wenig oder nichts. Sie bleiben unauffällig.» Erst wenn sie verunfallen, sterben oder hohe Geburtstage feiern, würden sie kurz wahrgenommen.
HUNGER-KATASTROPHE
Keller erzählt auch von den spektakulären Kämpfen im Thurgau, etwa dem Streik bei B. Heine in Arbon 1908 (siehe Box), den ersten fremdenfeindlichen Krawallen gegen Italiener im Jahr 1902 oder auch vom verzweifelten Widerstand der Hungernden von Bichelsee 1816. Naturkatastrophen und Missernten hatten diese an den Rand des Todes getrieben. Doch davon liess sich Regierungsrat und B.-Heine-Finanzchef Johann Conrad Freyenmuth wenig beeindrucken. Der hartherzige Magistrat liess ihre Hilfsgesuche monatelang liegen, weil ihm das Wohl der Staatskasse näher lag als das Leben der Untertanen. So gibt Keller tiefe Einblicke in die Klassenherrschaft in der Zeit von 1800 bis heute. Genuine Geschichte von unten aus der Meisterklasse.
Stefan Keller: Spuren der Arbeit. Von der Manufaktur zur Serverfarm.
Rotpunktverlag, Zürich 2020, CHF 38.–
Rekord-Streik: Der «Arboner Krieg»
Der härteste Streik im Kanton Thurgau – und wohl einer der härtesten der Schweiz – spielte sich 1908 in der grossen Stickereifabrik Arnold B. Heine & Co. AG in Arbon ab. Die 1500 Beschäftigten, vorwiegend Arbeiterinnen aus Italien, wehrten sich gegen eine Lohnsenkung.
Es kam zum grossen Streik samt kollektiver Aussperrung.
FÜNF MONATE. Ein Arbeitskampf, der fünf Monate dauerte und international Beachtung fand. Gewerkschaften aus halb Europa sammelten Geld für die Streikenden am Bodensee. Der Kampf endete mit einem Lohnkompromiss. Patron Arnold B. Heine setzte sich vier Jahre später nach New York ab, als das Stickereigeschäft in die Krise geriet.