Darum hat die Schweiz keinen Schlachthof-Skandal:
Corona-Prävention durch GAV und Flankierende

Die Schweizer Schlachthöfe hatten bisher wenig Corona-Fälle. Das ist auch den flankierenden ­Massnahmen zur Personenfreizügigkeit zu verdanken.

SCHWEINEREI: In der Schlächterei Tönnies in Nordrhein-Westfalen haben sich mehr als tausend Mitarbeitende mit dem Coronavirus infiziert. (Foto: Keystone)

Geht’s um die Wurst, versteht SVP-Nationalrat Andreas Glarner keinen Spass. Als vor zwei Jahren Gerüchte um ein Cervelatverbot an einer Schule die Runde machten, empörte sich der rechte Hardliner gewaltig. Und wollte sogleich 2000 Exem­plare der quasi-heiligen Nationalwurst unter die Kinder bringen. Doch ausgerechnet der angebliche Wurstliebhaber Glarner und seine SVP erweisen der Schweizer Fleischwirtschaft jetzt einen Bärendienst. Denn mit ihrer Kündigungsinitiative, die im September an die Urnen kommt, attackieren die Abschotter die flankierenden Massnahmen zur Per­sonenfreizügigkeit frontal. Und ­setzen damit nicht nur den Lohnschutz, sondern auch die Hygienestandards und Arbeitsbedingungen in Schweizer Schlachthöfen aufs Spiel. Und damit die Gesundheit aller. Das zeigt deutlich ein Vergleich der Corona-Situation in schweizerischen und deutschen Betrieben. Während beim deutschen Billig-Fleischbaron Tönnies der Super-GAU herrscht und schon über 1500 Mitarbeitende an Corona erkrankt sind, geben die schweizerischen Fleischfabriken allesamt Entwarnung. Corona-­Infektionen seien in hiesigen Schlachtbetrieben nur vereinzelt festgestellt worden, und man habe die Lage im Griff, heisst es aus der Branche einhellig. Das könnte auf den ersten Blick erstaunen. Denn in struktureller Hinsicht ist die deutsche Fleischindustrie nicht grundverschieden von der schweizerischen.

Zwar ist das Tönnies-Werk in Rheda-Wiedenbrück mit seinen mehr als 6500 Mitarbeitenden ein Mammut im Vergleich zum grössten Schlachthof der Schweiz. Dieser steht in Oensingen SO, wo 409 ­Mitarbeitende für die Coop-Tochter Bell Rinder, Schweine und andere Haartiere zerlegen. Doch in beiden Ländern findet seit Jahren ein Konzentrationsprozess statt – zugunsten immer weniger Unternehmen, die in immer grösseren Fabriken produzieren.

Auch ist hier wie dort der Preisdruck hoch, was oft direkte Auswirkungen auf Arbeitsbedingungen, Tierschutz und Löhne hat. Letztere sind ennet dem Rhein miserabel. Gemäss der Bundesagentur für Arbeit verdienen etwa rumänische Vollzeitmitarbeitende deutscher Schlachthöfe im Schnitt bloss 1700 Euro brutto. Und davon geht ein Teil als Mietzins meist direkt wieder an den Arbeitgeber zurück. Denn dieser ist bei rund der Hälfte aller Beschäftigten nicht der Fleischkonzern, sondern ein Subunternehmen oder eine Temporäragentur. Und diese quartieren die Menschen in schäbige Behausungen zu horrenden Preisen ein.

In den Schlachthöfen Deutschlands zeigt sich, was die SVP will.

ANDERE LÖHNE

Saftig sind die Löhne auch in der Schweiz nicht. Denn der handzahme Metzgereipersonalverband (MPV) ist keine echte Gewerkschaft, handelt aber mit den Arbeitgebern seit je exklusiv den Gesamtarbeitsvertrag (GAV) aus. Doch immerhin schreibt dieser für eine Metzgerin mit eidgenössischem Fähigkeitszeugnis einen Mindestlohn von 4200 Franken vor. Für dieses Geld einen anspruchsvollen Knochenjob zu machen – dazu sind allerdings immer weniger Schweizerinnen und Schweizer bereit. Kommt dazu: das Schlachten gehört bei den meisten Schweizer Metzgerlehrlingen nicht einmal mehr zur Ausbildung. Die nötige Manpower fürs Grobe holen sich die Firmen daher zunehmend aus Osteuropa.

MEHR SCHUTZ

Dennoch betont Ruedi Hadorn, Direktor des Schweizer Fleisch-Fachverbands (SFF): «In der Schweiz haben wir ganz andere Verhältnisse als in Deutschland.» Temporärangestellte seien nämlich grundsätzlich selbst für ihre Unterbringung verantwortlich. Zudem seien die Arbeitsverhältnisse aufgrund der notwendigen Arbeitsbewilligungen von längerer Dauer. Und auch Subunternehmen seien mit ihren Mitarbeitenden den allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträgen unterstellt. Tatsächlich müssen selbst ausländische Entsendefirmen ihren in der Schweiz tätigen Mitarbeitenden Schweizer Löhne gemäss dem allgemeinverbindlichen GAV zahlen. Für diesen Lohnschutz sorgen die flankierenden Massnahmen in der Personenfreizügigkeit. Sie garantieren, dass die ausländischen Mitarbeitenden nicht wie in Deutschland in engen Elendsunterkünften hausen müssen, sondern sich eine Wohnung leisten können. Deutschland hingegen hat die Personenfreizügigkeit ohne flankierende Massnahmen. So wie sie Cervelat-Glarner und seine SVP wollen.

Und doch bleibt ein schaler Nachgeschmack. Denn für Mitarbeitende mit «unterdurchschnittlichem Leistungsvermögen» schreibt der Schweizer GAV keinen Mindestlohn vor. Ebenso wenig für Hilfspersonal. Dabei stammt gerade dieses oft aus Osteuropa. Hier besteht also dringender Handlungsbedarf.

Schweiz: Fleisch­konsum sinkt

Die Cervelat ist die Schweizer Nationalwurst schlechthin. 160 Millionen Stück verdrücken wir jedes Jahr. Das entspricht mehr als dem Dreifachen des ­jährlichen Bratwurstkonsums. ­Besonders beliebt sind die «Stumpen» gemäss Bundesstatistik bei 50 – 64jährigen aus ländlichen ­Regionen der Deutschschweiz. Ihren Namen hat die Cervelat vom Schweinehirn (lateinisch: cere­brum porci), das der Rinderdarm gemäss dem Urrezept aus dem 16. Jahrhundert enthielt.

50 KILO PRO JAHR. Insgesamt sinkt der Fleischkonsum in der Schweiz seit 1987. Damals assen wir noch 63 Kilo Tier pro Jahr. Heute sind es noch 50 Kilo. In Deutschland ist die Fleischeslust billiger zu ­stillen und damit noch grösser als in der Schweiz – und zwar um 10 Kilo pro Kopf und Jahr.

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