Die Corona-Massnahmen waren wichtig und richtig. Aber sie haben die Ungleichheit zwischen Frauen und Männern in vielen Bereichen verschärft. Fünf Beispiele.
REIN DEKORATIV: Auch während des Lockdowns übernahmen nur wenige Männer Haushaltsarbeiten. (Foto: Keystone)
Die Coronakrise ist nicht nur eine medizinische Krise, sondern auch eine ökonomische und gesellschaftliche. Sie trifft die Ärmeren hart, die Reichen kaum. Migrantinnen empfindlicher als Schweizer. Und: Frauen stärker als Männer. Weil sich bestehende Ungleichheiten durch die Krise verschärfen. Und die Krisenmassnahmen deswegen nicht beiden Geschlechtern gleich viel nützen. Erste Untersuchungen aus dem In- und Ausland zeigen, welche Folgen diese Ungleichheit jetzt schon hat:
1. Der Lockdown schützte die Männer besser als die Frauen:
Der Lockdown hat den Coronavirus massiv eingedämmt. Aber er hat Männer besser geschützt als Frauen. Die Zahlen zeigen das deutlich: Bis Mitte März hatten sich mehr Männer mit dem Virus angesteckt als Frauen. Dann kam der Lockdown und damit die grosse Umkehr: Infiziert haben sich ab da vor allem Frauen, während die Ansteckung bei Männern seltener wurde. Nicht nur in der Schweiz, sondern europaweit.
Die Medizinerin und Geschlechterforscherin Catherine Gebhard vermutete (in der «Sonntagszeitung») gesellschaftliche Gründe: Einerseits arbeiten Frauen eher im Niedriglohnsektor, Teilzeit und in mehreren Jobs. Dadurch sind sie mehr unterwegs und öfter mit einem wechselnden Personenkreis in Kontakt. Andererseits arbeiten Frauen häufiger in sogenannt systemrelevanten Berufen, etwa in der Pflege und im Verkauf. Während sich alle, die konnten, ins Homeoffice zurückzogen, hielten sie vor Ort die Stellung.
Ein weiterer Faktor ist die unbezahlte Haus- und Betreuungsarbeit. Weil die Grosseltern für die Kinderbetreuung wegfielen und Schulen und Kitas geschlossen wurden, fiel diese zusätzliche Arbeit – getreu der «traditionellen» Rollenverteilung – vor allem Frauen zu. Und zwar nicht nur in der eigenen Familie, sondern auch im engeren Umfeld. Auch das erhöht die Ansteckungsgefahr.
Insgesamt haben sich in der Schweiz im Verhältnis ein Fünftel mehr Frauen mit dem Coronavirus infiziert als Männer.
2. Die Betreuungsarbeit blieb und bleibt an den Frauen hängen:
Schulen zu, Kitas zu und die Kinder den ganzen Tag zu Hause: Von heute auf morgen mussten sich berufstätige Mütter und Väter im Lockdown neu organisieren. Jetzt zeigen erste verlässliche Zahlen aus Deutschland: In Familien mit jüngeren Kindern haben 27 Prozent der Frauen ihr Arbeitspensum reduziert, um die zusätzlich anfallende Care-Arbeit (Homeschooling usw.) zu bewältigen. Bei den Männern waren es nur 16 Prozent. Diese Entwicklung zeigte sich sogar dort, wo Eltern die Care-Arbeit bisher gleichmässig aufgeteilt hatten: Nur 60 Prozent der Paare taten das auch während der Krise. Bei Paaren mit dem tiefsten Haushaltseinkommen waren es nicht einmal mehr die Hälfte.
Die Coronakrise verstärkt also alte Rollenmuster. Dies hat auch mit handfesten ökonomischen Zwängen zu tun. Denn: Männer verdienen nach wir vor mehr als Frauen. Gerade Familien mit wenig Geld können es sich deshalb schlicht nicht leisten, auf den höheren Männerlohn zu verzichten. Und diese alten Muster werden sich jetzt, wo wir in eine Rezession reinrutschen, noch zuspitzen: Die Frauen werden die ersten sein, die entlassen, und die letzten, die wieder eingestellt werden (siehe «Die Krise ist weiblich»).
In der Schweiz fehlen die Daten zur Betreuungsarbeit während Corona. Weil sie nicht erhoben werden. Hinweise könnten Zahlen der Ausgleichskassen und des Bundes bringen. Denn Mütter und Väter, die ihr Arbeitspensum wegen Betreuungsaufgaben reduzieren mussten, konnten Erwerbsersatz beantragen. Rund 7100 Gesuche wurden bisher bearbeitet, weitere sind noch hängig. work wollte wissen, wie viele davon von Frauen und wie viele von Männern eingereicht wurden. Die lapidare Antwort des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV): «Dazu haben wir keinerlei Daten.»
3. Die Gewalt gegen Frauen nahm zu:
In der Coronakrise stieg die Gewalt gegen Frauen weltweit explosionsartig an. Denn im Lockdown sassen Opfer und Täter zusammen zu Hause fest. In der chinesischen Provinz Hubei verdreifachten sich die Meldungen zu häuslicher Gewalt. In Grossbritannien nutzten in der letzten Märzwoche 40 Prozent mehr Menschen den Onlinehilfe-Chat der Organisation «Women’s Aid», und in Italien verzeichnete die Organisation «D. i. RE» 74 Prozent mehr Meldungen von gewaltbetroffenen Frauen. Eine erste Umfrage aus Deutschland zeigt zudem: 3,6 Prozent aller Frauen wurden während des Lockdowns von ihrem Partner vergewaltigt.
In der Schweiz füllten sich die Frauenhäuser vor allem am Anfang rasant. Danach blieb es verdächtig still. Fachfrauen sagten aber voraus, dass sich viele Betroffene vermutlich erst später melden würden, weil die Kontrolle durch die Männer während des Lockdowns noch stärker ist. Erste Zahlen bestätigen diese Prognose jetzt: Bei der Opferhilfe beider Basel meldeten sich mittlerweile 28 Prozent mehr betroffene Frauen als im Vorjahr. Und die Anrufe nähmen weiter zu. Dass nun das ganze Gewaltausmass ersichtlich wird, ist aber unrealistisch. Wahrscheinlicher ist, dass die ohnehin schon hohe Dunkelziffer in der Coronakrise noch weiter angewachsen ist.
4. Die Wissenschaft wurde (noch) männlicher:
Nur sechs Wochen nach dem weltweiten Beginn der Corona-Massnahmen stellten Herausgeberinnen und Herausgeber von internationalen Wissenschaftsjournals einen Trend fest: Plötzlich reichten Frauen weniger Artikel zur Publikation ein als Männer. In der – ohnehin männlich dominierten – Astrophysik ging die Produktivität von Frauen um die Hälfte zurück. Selbst in den Sozialwissenschaften, wo Frauen vergleichsweise besser vertreten sind, blieben weibliche Beiträge plötzlich aus. Ein anderes Phänomen stellte hingegen ein politikwissenschaftliches Magazin fest: Dort nahmen die Beiträge von Frauen zwar nicht ab, aber Männer reichten plötzlich doppelt so viele Arbeiten ein wie vorher.
In den Wirtschaftswissenschaften wird aktuell besonders viel publiziert, im Zusammenhang mit den ökonomischen Auswirkungen des Coronavirus. Gerade für junge Wissenschafterinnen und Wissenschafter kann eine Covid-19-Veröffentlichung ein Sprungbrett sein. Doch: Satte 88 Prozent der bisherigen Corona-Publikationen weltweit stammten von Männern. Das sind rund 10 Prozent mehr als sonst. Die Gründe für den geschmälerten Frauenanteil: Auch Akademikerinnen kümmern sich öfter um Haushalt und Kinder als Männer und sind nun zu Hause noch stärker eingespannt. Ausserdem sind Akademikerinnen in ihrem Arbeitsalltag häufiger in der Lehre tätig und müssen sich jetzt mit dem Fernunterricht herumschlagen. Während ihre männlichen Kollegen öfter in Führungspositionen sitzen und organisatorische Entscheidungen treffen. Etwa über Budgets und Personaleinstellungen. Wegen der Corona-Schliessungen im Bildungs- und Forschungswesen nimmt diese Arbeit tendenziell ab. Und Mann hat mehr Zeit, um mit Publikationen zu brillieren. Die langfristigen Folgen davon: Die Wissenschaft wird wieder noch männlicher.
5. Die Rechte der Frauen wurden eingeschränkt:
Lange verharmlosten US-Präsident Donald Trump und seine Gefolgsmannen den Coronavirus. Nur eine «normale Grippe» sei das. Dann legten sie eine 180-Grad-Wende hin und entdeckten, dass sie den Virus ja für die eigenen politischen Zwecke nutzen können. Zum Beispiel gegen das Recht auf Abtreibung: Unter dem Deckmäntelchen der Corona-Bekämpfung schränkten elf republikanisch regierte Bundesstaaten das Abtreibungsrecht ein. Texas verhängte für einen Schwangerschaftsabbruch eine Strafe von 1000 Dollar oder 180 Tage Gefängnis. Weil Abtreibungen «nichtessentielle medizinische Eingriffe» seien und verschoben werden könnten. Im Wissen, dass es für die Frauen später zu spät sein würde.
Ähnlich und doch anders macht es Polen: Dort versucht die rechte Regierung schon seit vier Jahren das – ohnehin schon eingeschränkte – Abtreibungsrecht zu kippen. Bisher scheiterte sie an den Massenprotesten der Bevölkerung. Als diese wegen der Corona-Ausgangssperre nicht mehr stattfinden durften, witterten die Rechten Morgenluft. Und setzten das neue Abtreibungsverbot kurzerhand wieder auf die Beschlussliste. Weil ihre Gegnerinnen und Gegner aber auch jetzt Mittel und Wege fanden zu protestieren, wurde das Vorhaben vorerst wieder auf Eis gelegt.