Die direkte Demokratie der Schweiz hat auch mit der Sklaverei in den USA zu tun. Das macht der linke Historiker und Politiker Josef «Jo» Lang in seinem neuen Buch deutlich.
UNGEHEUERLICHE UNGERECHTIGKEIT: Auktion von Sklaven in den US-Südstaaten, 1852. Alle, die im 19. Jahrhundert in der Schweiz eine neue Verfassung wollten, solidarisierten sich vehement mit den Sklavenbefreiern in den USA. (Foto: Keystone)
Direkte Demokratie: Nirgends gibt es derart viele Mitsprachemöglichkeiten fürs Volk wie in der Schweiz. Doch diese fielen nicht vom Himmel. Stets hat sie die Zivilgesellschaft gegen die Mächtigen erkämpfen müssen – direkte Demokratie entstand von unten. Das ist, auf einen kurzen Nenner gebracht, die Botschaft von Jo Langs neuem Buch. Ein Beispiel ist die Bundesverfassung von 1874. Sie galt damals als die revolutionärste und weitreichendste der Welt.
Drei soziale Gruppen wollten das «System Escher» bodigen.
ERFOLG DER GEWERKSCHAFTEN
Drei soziale Gruppen fanden sich damals zusammen: die Demokraten, die freisinnigen Radikalen und der Grütliverein als Vorläufer der Sozialdemokratie. Sie alle hatten genug vom alles beherrschenden «System Escher»: Der Grosskapitalist, Bankmagnat und Eisenbahngründer Alfred Escher hatte die Schweiz im Sack und gab selbstherrlich den Ton an. Ihn galt es zu schlagen. Also spannten die drei zusammen und mobilisierten das Volk aus unterschiedlichen Motiven für mehr Demokratie. Mit Erfolg.
Dieser Erfolg, der in der neuen Bundesverfassung von 1874 gipfelte, hat auch mit der Sklaverei in den USA zu tun. Denn alle, die eine neue Verfassung wollten, solidarisierten sich vehement mit den Sklavenbefreiern in den USA. Auf der anderen Seite standen die Wirtschaftsliberalen um Alfred Escher. Sie unterstützten die Baumwollherren und Plantagenbesitzer, weil sie ökonomisch von der Sklaverei profitierten. Katholische Kreise hielten ebenfalls zu den Unterdrückern im Süden der USA. Sie konnten mit den «Hottentotten», wie Schwarze zu jener Zeit abschätzig genannt wurden, wenig anfangen, und sie waren auch gegen moderne Reformen in der Schweiz. So befeuerte der Kampf um die Abschaffung der Sklaverei die politische Ausgestaltung der modernen Schweiz. Das macht Jo Lang auf überraschende Weise deutlich. Er beschreibt diese Zeit sogar als «stärksten zivilgesellschaftlichen Aufbruch in der Schweizer Demokratiegeschichte».
Langs konsequent linke Optik rückt auch die fortschrittliche Rolle der Gewerkschaften als Verfechterinnen einer sozialen Demokratie ins Licht. Andere Geschichtsbücher verschweigen oder spielen sie herunter. Der Kampf der Arbeiterbewegung um Anerkennung kulminierte im Landesstreik von 1918. Lang setzt hier einen originellen Akzent, indem er das Abseitsstehen einer wachsenden Klasse betont: der Angestellten. Umso grösser war deshalb der Schreck bei den Bürgerlichen, als in Zürich sogar die Bankangestellten streikten.
AUFSTIEG UND FALL DER SVP
Eine Perle in Langs Buch ist seine Bewertung von Christoph Blocher und dem kometenhaften Aufstieg der SVP. Lang erkennt in Blocher einen späten kalten Krieger und geistigen Landesverteidiger aus den 1930er Jahren. Ihm sei es gelungen, unter der Klammer der Ausländerfeindlichkeit Konservative aller Fasson zusammenzubringen. Lang sieht aber Blochers Stern schon länger am Sinken. Nach etlichen Niederlagen sei die Dominanz der SVP heute vorbei. Die Schweiz sei das erste Land Europas mit einem Aufstieg des Rechtspopulismus gewesen, und sie sei jetzt auch das erste, in dem sein Abstieg stattfinde. Dies zeigen laut Lang die Wahlen von 2019, die mit einer Niederlage der SVP und einem Erdrutschsieg des grünen Lagers endeten. Lang hält die Klimajugend und den Feminismus für die beiden wichtigsten Bewegungen der Gegenwart. Sie würden künftig die Hauptauseinandersetzungen mit den klassisch-bürgerlichen Kräften bestreiten.
Josef Lang: Demokratie in der Schweiz. Geschichte und Gegenwart. Verlag Hier und Jetzt, Baden 2020, ca. CHF 40.–.
Historiker: Jo Lang
Ein Linker schreibt Geschichte. Und macht sie auch selbst. Josef «Jo» Lang (*1954) war Berufsschullehrer, Mitgründer der Gesellschaft für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) und langjähriger Politiker der Grünen Alternative Zug. Von 2004 bis 2011 sass er für die Grünen im Nationalrat, bis er die Wiederwahl knapp verpasste. Doch als gewichtige politische Stimme blieb der Historiker bis auf den heutigen Tag präsent – mit Artikeln, Blogs und Aufsätzen. Selbst in einem katholischen Haus aufgewachsen, sorgte er insbesondere mit kritischen Beiträgen zum katholischen Antisemitismus für Aufsehen.