Chauffeur Adil Nejem* gehört zur Corona-Risikogruppe. Er hat Anrecht, zu Hause zu bleiben und auf seinen Durchschnittslohn. Doch das Temporärbüro bezahlt nicht. Und er ist kein Einzelfall.
AUF DER STRASSE: Die Temporärfirma Induserv vermittelt Chauffeure für Coop-Lieferungen. Dem Chauffeur und Corona-Risikopatienten Adil Nejem schuldet Induserv mindestens zwei Monatslöhne. (Foto: iStock)
Das Büro ist klein, höchstens acht Quadratmeter. Vier Leute arbeiten darin. Mehrmals pro Tag müssen Lastwagenchauffeure des Coop-Verteilzentrums im aargauischen Schafisheim dort vorbei. Dann wird es richtig eng. Chauffeur Adil Nejem sagt: «Manchmal sind wir vier Fahrer gleichzeitig, also acht Leute total. Dann stehen wir Schulter an Schulter.»
Auch Ende März war es so, auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie. Nejem erinnert sich: «Auf der Post musste ich einen Mindestabstand von zwei Metern einhalten, bei den Behörden konnte man nur noch anrufen, ihre Schalter waren geschlossen. Aber bei uns gab es nicht einmal Schutzmasken.»
Für Nejem eine unhaltbare Situation. Denn nach zwei Herzinfarkten gehört der 57jährige zur Corona-Risikogruppe. Er schildert seinem Arzt die Zustände. Der weist ihn an, zu Hause zu bleiben, und stellt ihm ein Arztzeugnis aus. Doch damit fangen die Probleme erst an.
«Seit Ende März keinen Rappen mehr erhalten.»
AUSGELIEHEN …
Denn Nejem ist nicht bei Coop angestellt, sondern beim Temporärbüro Induserv. Das leiht ihn an das Subunternehmen Stef Schweiz aus, das im Auftrag von Coop arbeitet. So geht das seit vier Jahren. Jetzt weigert sich Induserv, seinem Mitarbeiter den Lohn zu zahlen. Nejem: «Seit Ende März haben sie mir keinen Rappen mehr bezahlt. Ich musste aufs Sozialamt, um meine Rechnungen zu bezahlen. Das war erniedrigend.»
Rechtlich ist alles klar. Jurist Benno Kunz betreut den Fall bei der Unia Zentralschweiz. Er sagt: «Da der Betrieb den Schutz nicht gewährleisten kann und Adil Nejem zur Risikogruppe gehört, darf er zu Hause bleiben und hat Anrecht auf seinen Durchschnittslohn der letzten 12 Monate.»
Geschäftsführer von Induserv ist Andreas Eichenberger. Er bestreitet den mangelnden Corona-Schutz und findet, es wäre Nejem «durchaus möglich gewesen, seinen Arbeitsverpflichtungen nachzukommen». Sowohl Coop als auch Stef Schweiz hätten «äusserst detaillierte» Corona-Schutzkonzepte, schreibt Eichenberger an work. Induserv «durfte sich mehrfach vor Ort von der strikten Anwendung der Schutzkonzepte überzeugen».
Coop schreibt, man habe kein direktes Vertragsverhältnis mit Induserv, werde den Fall aber mit dem Subunternehmen Stef Schweiz besprechen. Vor dem Büro befinde sich ein grosser Raum, in dem die Fahrerinnen und Fahrer mit genügend Abstand warten könnten. «Wie viele Disponenten von Stef Schweiz in diesen Räumlichkeiten arbeiten, liegt in deren Verantwortung.»
Klar ist, dass Chauffeur Nejem schlechtergestellt ist als die Coop-Mitarbeitenden. Denn diese unterstehen dem Gesamtarbeitsvertrag. Corona-Risikopersonen, bei denen der Schutz nicht gewährleistet war, durften «unter voller Lohnzahlung» zu Hause bleiben, wie Coop mitteilt.
Warum stellt Coop denn nicht alle benötigten Mitarbeitenden selber an? Man brauche Subunternehmen und Temporärkräfte, «um vorübergehende Auftragsspitzen abzufedern», was insbesondere während der Coronakrise «unumgänglich» gewesen sei. Allerdings: Nejem arbeitet schon seit vier Jahren temporär im Verteilzentrum Schafisheim. Unia-Jurist Kunz hat das Temporärbüro aufgefordert, Chauffeur Nejem den Lohn zu bezahlen. Ohne Erfolg. Auch nach einer Betreibung zahlte Induserv nicht. Jetzt geht der Fall vor die Schlichtungsbehörde und allenfalls vor Gericht.
Wie Adil Nejem ging es in den letzten Wochen unzähligen Temporärarbeitenden. Gegen aussen gibt sich die Branche gern sozial. In einer Broschüre des Verbands Swiss Staffing heisst es: «Schwer vermittelbare Menschen finden über Personaldienstleister eher eine Stelle und bleiben auf dem Arbeitsmarkt, was den Sozialstaat entlastet.» In der Coronakrise zeigten die Temporärbüros aber ein anderes Gesicht.
… UND ABGESCHRIEBEN
Véronique Polito von der Unia-Geschäftsleitung sagt: «In keiner anderen Branche haben die Firmen ihre Mitarbeitenden dermassen kalt und herzlos abserviert. Es zählt leider zu oft der Profit, sonst nichts.» Wie viele der knapp 400’000 Temporären in der Schweiz wegen der Coronakrise ihre Stelle verloren haben, weiss niemand. Denn in der Statistik tauchen sie nicht separat auf, sondern als Industriearbeiterinnen, Küchengehilfen oder Bauarbeiter. Polito weiss: «In vielen Betrieben waren die Temporären die ersten, die nach Hause geschickt wurden. Einige von ihnen bekamen nicht einmal den Lohn bis zur Kündigungsfrist, obwohl sie darauf Anrecht haben.»
«Mitarbeitende wurden kalt
und herzlos abserviert.»
NICHT EINMAL KURZARBEIT
Zwar dürfen neu auch Temporärbüros ihre Mitarbeitenden zur Kurzarbeit anmelden. Aber die meisten nutzen diese Möglichkeit nicht. Denn dann müssten sie, wie alle anderen Firmen auch, weiterhin Pensionskasse und Taggeldversicherung bezahlen. Polito: «Diese Kosten sparen sie offensichtlich lieber und stellen dafür die Leute auf die Strasse.»
So wie Rúben Silva*. Der 48jährige arbeitete temporär als Gärtner in einem Genfer Luxushotel. Sechs Monate lang. Dann wurde der Autosalon abgesagt, viele Gäste stornierten ihre Buchungen, und Silva wurde entlassen. Er ist noch heute schockiert: «Der Chef des Temporärbüros sagte mir, ab nächstem Mittwoch musst du nicht mehr kommen, ich will dein Gesicht nicht mehr sehen!» Als der Bundesrat die Kurzarbeit auf die Temporärbüros ausweitete, bat Silva den Chef, die Kündigung aufzuheben und ihn stattdessen für Kurzarbeit anzumelden. Dieser lehnte ab. Ohne Begründung. Silva: «Ich fragte ihn: Ich habe drei Kinder, wie soll ich die ernähren ohne Lohn? Er sagte, das sei nicht sein Problem.»
GAV-Verhandlungen: Es wird hart
Véronique Polito. (Foto: Unia)
Wenn in einem Betrieb oder einer Branche ein GAV gilt, sollen dessen Mindestlöhne auch für Temporäre gelten: Auf diesen Grundsatz haben sich die Sozialpartner der Temporärbranche vor anderthalb Jahren geeinigt.
Jetzt verhandeln sie über die Umsetzung im neuen GAV. Weitere Forderungen der Gewerkschaften sind höhere Mindestlöhne und ihre Ausweitung auf Industrie und öffentlichen Verkehr. Denn dort gibt’s derzeit keinen Mindestlohn für Temporäre.
Die Arbeitgeberseite präsentierte dagegen ein radikales Abbauprogramm. Für Unia-Frau Véronique Polito ist klar: «Uns stehen harte Verhandlungen bevor.»