Die Krise in der Schweizer Industrie begann schon vor Corona:
Der brutalste Crash seit 1929

Corona legt die ­Wirtschaft lahm. Doch längst nicht an allem ist das kleine Virus schuld.

DEN FADEN VERLOREN: Die Textilfirma Lantal steckt tief in den roten Zahlen. 75 Stellen sollen abgebaut werden. (Foto: Keystone)

Es ist die Stunde der ruchlosen Manager. Sie nutzen die Corona­krise, entlassen Mitarbeitende und kassieren zusammen mit den Aktionären ab. Zum Beispiel Schindler: Der Liftbauer aus Ebikon LU will weltweit 2000 Stellen streichen, 200 in der Schweiz. Noch im Lockdown verteilte Schindler 431 Millionen Franken, 190 Millionen davon allein an die Patronfamilien Schindler und Bonnard. Dasselbe Trauerspiel bei Sulzer in Winterthur: Im ­April gab es 137 Millionen Franken für die Besitzenden, davon 67 Millionen für den russischen Olig­archen Victor Vekselberg. Und prompt streicht jetzt Sulzer Chemtech 55 Stellen in Winterthur. Angeblich wegen Corona. Tatsache ist: Das Virus lässt die Wirtschaft stottern. Aber es wird auch genutzt, um Kapitalinteressen knallhart gegen die Mitarbeitenden durchzusetzen. Manuel Wyss, Leiter MEM-Industrie bei der Unia, sagt: «Es geht überhaupt nicht, dass Firmen, die Gewinne ausschütten, gleichzeitig Leute auf die Strasse stellen!»

«Es sieht ­teilweise düster aus.»

AUTOZULIEFERER FLOPPEN

Die Corona-Pandemie hat die Wirtschaftskrise massiv verschärft. Unia-Mann Wyss: «Wir erleben jetzt den brutalsten Crash seit der grossen Depression von 1929.» Teile der Industrie seien schon seit letztem Herbst in der Krise. Dies, obwohl die Zentralbanken die Finanzmärkte seit zwei Jahren mit Milliardengeldern fluten, um die Konjunktur anzukurbeln. Vergeblich. Wyss rechnet bis Jahresende mit einer weiteren Entlassungswelle: «Es sieht teilweise düster aus.» So ­haben Unternehmen wie Straumann, OC Oerlikon oder Landis + Gyr Stellenstreichungen angekündigt. Am massivsten solche Firmen, die mit der darbenden Fliegerei verbunden sind. Etwa SR Technics, Gate Gourmet oder Swissport. Aber auch die Uhrenindustrie erlebt massive Einbrüche.

Allerdings geht es nicht allen Industriefirmen schlecht. Die Pharmakonzerne, aber auch Teile der Chemie machen weiterhin gute Gewinne. Hingegen haben die Autozulieferer in der Schweiz mit ihren insgesamt 34’000 Mitarbeitenden seit längerem grosse Mühe. So stand das Werk von ­Autoneum im Rheintal wegen der Krise der deutschen Autobauer wochenlang still. Ein grober Paukenschlag erfolgt jetzt am Bodensee: In Steinach SG hat der wenig bekannte US-Konzern TE Connectivity die Schliessung des Betriebs angekündigt. Der Konzern stellt Steckverbindungen und Sensoren her, macht 13 Milliarden Dollar Umsatz und beschäftigt welweit 80 000 Mitarbeitende. Innert Jahresfrist werden 250 Beschäftigte auf die Strasse gestellt, eine der grössten Massenentlassung der letzten Monate. Laut Unia-Regioleiterin Anke Gähme hat die Geschäftsleitung die Gewerkschaften konsequent abgeblockt: «Es war wie eine Blackbox. Im Betrieb regiert die Angst.» Intern sagen Beschäftigte, dass das Werk sehr wohl wettbewerbsfähig sei. Über einen angeblichen Sozialplan schweigt sich das Management aus. Von den Entlassungen sind auch Lehrlinge betroffen.

Noch tiefer in der Krise steckt die Textilindustrie. Tradi­tionsbetriebe wie die Glarner Jenny Fabrics oder Mitlödi Textildruck geben die Produktion auf (work berichtete). Teils bedingt durch Corona, da wichtige Absatzmärkte wie China oder Italien eingebrochen sind. Der jüngste Fall ist die Lantal Textiles AG im bernischen Langenthal mit 258 Mitarbeitenden. Diese produzieren Bezugsstoffe für Flugzeuge und Bahnen auf der ganzen Welt. CEO Urs Ricken­bacher will mit Verweis auf die global lahmgelegte Luftfahrt insgesamt 75 Stellen abbauen.

ABBAUWELLE. Angekündigte Entlassungen in der Schweizer Industriebranche.

SCHÖNFÄRBEREI

Der Branchenleiter Textilindus­trie bei der Unia, Berthold Büscher, bringt zwar Verständnis für die Probleme auf: «Klar ist es schwierig, aber es darf keine Kündigung ohne Anschlusslösung ­geben.» Bis Ende August läuft die Konsultationsfrist. Die Unia unterstützt die Betriebskommission und hat auch Vorschläge zur Rettung möglichst vieler Jobs ausgearbeitet. Die Lantal Textiles AG untersteht dem Gesamtarbeitsvertrag der Textilindustrie und ist ihr bedeutendster Betrieb.

Die Entlassungswelle rollt also: Beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) sind allein zwischen März und Juni 139 Meldungen von Massenentlassungen eingegangen. Betroffen sind an die 8000 Mitarbeitende. Dennoch macht das wirtschaftsnahe Bundesamt weiter auf Schönfärberei. Boris Zürcher, Leiter der Sektion Arbeit, liess kürzlich gegenüber den Medien verlauten, er sehe keine Entlassungswelle im Herbst. Dies entgegen allen Ankündigungen und angesichts derzeit rund 150’000 Arbeitsloser in der Schweiz. Braucht der Mann eine neue Brille?


Entlassungs­welle: Was tun? Die Unia fordert:

Noch vor den Sommerferien trafen sich Fachleute der Unia und des Gewerkschaftsbunds. Sie diskutierten, wie man die Konjunktur stützen und Entlassungen vermeiden könnte. Die von der Unia verlangte Verlängerung der Kurzarbeit von 12 auf 18 Monate ist inzwischen Tatsache.

FONDS. Schon länger fordert die Unia ­einen Produktionsfonds mit 30 Milliarden Franken: Gelder aus Pensionskassen, die von der ­Nationalbank garantiert werden, sollen Innovationen und zukunftsträchtige ­Investitionen im ökosozialen Umbau ermöglichen. Die Forderung bleibt ­aktuell.

INNOVATION. Weiter braucht es einen besseren Transfer von Know-how durch eine Innovations­datenbank. Die Exportrisikoversicherung soll ausgebaut werden. Der Bundesrat hat dazu soeben Erleichterungen beschlossen. Schliesslich muss die Aus- und Weiterbildung gefördert werden. Etwa durch Transferorganisationen im Falle von Job­abbau. Oder den Berufs­umstieg erleichtern wie mit dem Modell «Passerelle», das die Unia ausgearbeitet hat (work berichtete). Dieses ist ­bereits im Gesamtarbeitsvertrag der Maschinenindustrie verankert. Eine neue Idee ist die Schaffung ­einer ­Behörde für eine nachhaltige ­industrielle Entwicklung. Das Ziel wäre die ­Erhaltung eines ­Industrieanteils in der Schweiz von
20 Prozent.

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