Emilie Lieberherr eckte an, gerade auch in den eigenen Reihen. Trotzdem hat sie die Gleichstellung der Frauen massgeblich vorangebracht.
EMILIE LIEBERHERR: Die wortgewaltige Frauenrechtlerin wusste sich in Szene zu setzen. Mit Tiger-Baby im Zürcher Zoo. (Foto: PD)
Dienstagmorgen am Zürcher Helvetiaplatz, Markttag. Die Türen des Amtshauses öffnen sich. Heraus tritt die Sozialvorsteherin mit einem Korb am Arm. Sie grüsst huldvoll nach allen Seiten und kauft ihr Gemüse ein.
Das war Emilie Lieberherr, «animal politique» wie keine andere Politikerin in der Schweiz. Sie war Regisseurin und Hauptdarstellerin in Personalunion, genoss das Bad in der Menge, war volksnah im besten Sinne. Sie jasste in den Zürcher Beizen, sie kannte «ihre Zürcher» – und die Leute sprachen sie überall auf Nöte und Probleme an.
DER ROTE MANTEL
Emilies Leben beginnt 1924 in Erstfeld, Uri, als Tochter einer Italienerin und Hausfrau und eines Maschinenschlossers aus dem Thurgau. Im katholischen Internat in Ingenbohl SZ findet sie ihre Lebensrolle als Agitatorin, damals gegen Faschismus und Nationalsozialismus.
Kaum eine Politikerin war so lange, so konsequent und so beschwingt aktiv wie Lieberherr. Nach ersten Berufsjahren bei der Schweizerischen Bankgesellschaft studierte sie als Werkstudentin Volkswirtschaft. 1956 ging sie mit ihrer Freundin Minnie Rutishauser nach New York, wo sie vom Schauspieler Henry Fonda als Kinderfrau für seine beiden Kinder Jane und Peter engagiert wurde. Zurück in der Schweiz, begann Emilie Lieberherr ab Anfang der 1960er Jahre als Kämpferin für das Frauenstimm- und -wahlrecht ihre politische Laufbahn.
Sie war ein Glücksfall für die Sache der Frauen: wortgewaltig, energisch und begnadete Strategin. Sie trat der SP bei und war Mitorganisatorin des berühmten Frauenstimmrechts-Marsches nach Bern von 1969. Ihre «Brandrede», wie sie es selbst nannte, hielt sie vor dem Bundeshaus. Der rote Mantel, den sie damals trug – eine typische Lieberherr-Inszenierung –, wurde von ihr danach über die Jahrzehnte immer wieder eingesetzt und ist heute im Landesmuseum ausgestellt. Es ist nicht das Original von 1969, denn Emilie hatte den Mantel laufend modisch erneuert.
DIE VERSTECKTE LIEBE
Nach den Mühen der Berge folgten die Mühen der Ebenen. Für diese hatte Emilie wenig Sinn. Die neue Frauenbewegung blieb ihr fremd, die Forderungen der Jugendbewegung verstand sie nicht. Sie war rechthaberisch und selbstherrlich. 1990 wird Emilie Lieberherr schliesslich aus der SP ausgeschlossen. Das Fass bringt sie zum Überlaufen, als sie sich öffentlich für den freisinnigen Thomas Wagner für das Stadtpräsidium ausspricht. Die Wahl gewinnt der SPler Sepp Estermann, der später die Stimmung im Stadtrat als höllisch schildert. Sein Vorschlag, man solle einen Mediator beiziehen, kontert Lieberherr mit: «Ihr braucht vielleicht einen Psychiater. Ich nicht!»
Emilie Lieberherr hat die Gleichstellung der Frauen massgeblich vorangebracht. Aber sie war keine Wegbereiterin der Lesbenbewegung. Die Beziehung zu ihrer Lebensgefährtin Minnie Rutishauser, mit der sie fast 70 Jahre zusammengelebt hatte, blieb versteckt. Erst viele Jahre nach ihrem Rücktritt aus dem Stadtrat trat Emilie Lieberherr erstmals öffentlich mit ihr auf. Man kann es ihr nicht verübeln, denn die soziale Ausgrenzung als Lesbe hätte sie als Politikerin kaum überstanden.
work-Serie: Stimmrechtsfrauen
Am 7. Februar 2021 wird das nationale Stimm- und Wahlrecht der Frauen in der Schweiz 50jährig. Bis dann wird Gewerkschafterin und Historikerin Dore Heim die unerschrockensten und wichtigsten «Frauenrechtlerinnen» in einer work-Serie porträtieren. Bisher gewürdigt wurden: Katharina Zenhäusern, die als erste Schweizerin abstimmen ging. Und Iris von Roten, eine der radikalsten Denkerinnen der Sache der Frauen. Alle Teile der Serie zum Nachlesen gibt es hier.