Die Mahnwache von Thun

Jean Ziegler

Jean Ziegler

Friedrich Nietzsche schreibt: «Wenn die Christen an Gott glauben würden, hätte man das gemerkt.» Der deutsche Philosoph hat recht. Aber es gibt Ausnahmen. Die Christen von Thun-Strättligen zum Beispiel. Zwei Pfarrerinnen amtieren an der dortigen Markuskirche: Renate Häni Wysser und Uta Ungerer. Zusammen mit vielen Mitgliedern ihrer Gemeinde hatten sie am 9. September den Brand von Moria auf der Ägäisinsel Lesbos verfolgt, dem grössten Flüchtlingslager auf europäischem Boden, und die nachfolgende Tragödie der über 12’000 obdach- und hilflosen Flüchtlinge. Sie beschlossen, zu tun, was in ihrer Macht stand.

«Zuerst ignorieren sie euch, dann verspotten sie euch, dann bekämpfen sie euch. Dann gewinnt ihr.»

EVAKUIEREN DER ELENDSLAGER. Am 23. September hielten sie eine Mahnwache. Sie hiess: «Hinschauen statt wegschauen – Hilfe für die Flüchtlinge auf Lesbos». An der Kirchentür hing ein Plakat: «Mittwoch, 23. September, von 17 bis 19 Uhr auf dem Areal der Markuskirche und von dort entlang der Schulstrasse: Mahnwache mit Spendenaktion und Unterschriften». Hunderte folgten dem Aufruf und stellten sich in die Menschenkette.

Später schrieben sie an den Gemeinderat von Thun und an den Bundesrat: «Evakuieren der Elendslager. Platz bei uns ist genug.» Am 10. Oktober nahm ein stattliches Kontingent der Thuner Gemeinde an der nationalen Demonstration in Bern teil. Seither steht
jeden Mittwochabend eine Mahnwache in der Thuner Innenstadt.

Als Demokrat beängstigt mich die hartherzige, mitleidlose Abwehr einer Aufnahme der Flüchtlinge durch die bürgerliche Mehrheit des Bundesrates, die die humane Aufnahmepolitik des Staatssekretariats für Migration verhindert.

Der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau schrieb 1755 in seiner «Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen»: «Die Menschen mit all ihrer Moral wären stets nur Ungeheuer gewesen, wenn die Natur ihnen nicht das Mitleid zur Stütze ihrer Vernunft gegeben hätte.» Justizministerin Karin Keller-Sutter fehlt das Mitleid.

DAS SCHWEIZER GESPENST. Ein Gespenst geht um im schweizerischen kollektiven Gedächtnis. Am 13. August 1942 hatte der Bundesrat eine Weisung erlassen. Wortlaut: «Flüchtlingen nur aus Rassengründen, zum Beispiel Juden, wird der Status des politischen Flüchtlings nicht zuerkannt.» Zehntausende verzweifelter Flüchtlinge wurden ihrem fürchterlichen Schicksal überlassen. Der damals Haupt­verantwortliche war einer von Keller-Sutters Vorgängern, Justizminister Eduard von ­Steiger. Christen protestierten schon damals. Ohne Erfolg.

Die bernische Landeskirche hat eine Koordinationskommission geschaffen und neue Mahnwachen in weiteren Kirchgemeinden organisiert. Der indische Politiker Mahatma Gandhi weist den Berner Christen den Weg: «Zuerst ignorieren sie euch, dann verspotten sie euch, dann bekämpfen sie euch. Dann gewinnt ihr.»

Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein neustes Buch ist: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten.

1 Kommentare

  1. Hans (Jean) Haldimann 6. März 2021 um 22:39 Uhr

    Haushohe Bewunderung meinerseits !! Kolumnen in der workzeitung immer zeitgemäss und spanend ! Wie ist dein Wissen so frisch geblieben. Viele Kontakte schon lange nicht mehr gehabt, aber noch taufrisch im Kopf. Meisterhafter Bericht über Urs Jaeggi !!

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